HERZ HINTER DORNEN
sie niemandem vertrauen konnte. Schweigend nahm sie den Blick von der Madonna und sah die Äbtissin an, die mit halb geschlossenen Augen ganz in ihre eigenen Gedanken versunken schien.
»Es tut mir Leid«, wisperte sie. »Ihr seid sicher enttäuscht von mir, aber ich bin bereit, für meine Sünden zu büßen. Es ist das Einzige, was mir noch zu tun bleibt!«
»Du lieber Himmel«, brauste die Äbtissin auf und bekreuzigte sich hastig, denn die drei Worte hatten schon arg nach einem Fluch geklungen. »Hört auf, Eure Taten schwärzer zu malen als sie sind. Es ist ...«
Sie suchte erkennbar nach Worten und begann unvermittelt mit einer Erklärung, die Roselynne weder gefordert noch erwartet hatte.
»Da gibt es einige Dinge, die du wissen musst. Justin d'Amonceux ist der einzige lebende Sohn meiner Schwester Lyane. Der Graf von d'Amonceux hatte Lyane zur Gemahlin genommen, als sie eben vierzehn Sommer alt geworden war. Er selbst zählte zu diesem Zeitpunkt schon an die Vierzig und wollte einen Erben von Lyane. Als sie nach drei Totgeburten endlich einen lebenden Jungen zur Welt brachte, war er zufrieden und ließ sie in Ruhe. Von da an existierte nur dieser Erbe für ihn. Er wurde vom ersten Tag seines Daseins in dem Bewusstsein aufgezogen, etwas Einmaliges und Wunderbares zu sein. Die Krone der Schöpfung, sozusagen. Wann immer er dieser Anforderung nicht voll entsprach, strafte ihn sein Vater unbarmherzig. In den Armen seiner jungen Mutter fand der Knabe jedoch anfangs auch Wärme und Zuneigung.«
Roselynne fühlte sich wie erstarrt. Seltsamerweise hatte sie sich nie gefragt, was Justin zu dem Mann gemacht hatte, der er war. Mutter Laurentine sah ihr das Erstaunen an und lächelte sanft.
»Aber Lyane war jung und einsam, ein kleiner Junge genügte ihr nicht, um das freudlose Leben in d'Amonceux zu ertragen. Sie ließ sich leichtsinnigerweise mit einem der jungen Ritter ihres Gatten ein und wurde ausgerechnet von Justin mit ihm im Heu ertappt. Der Junge war vier und viel zu klein, um zu begreifen, was da geschah. Er hatte Angst um seine Mutter, die vermeintlich hilflos unter dem Mann zappelte, und rannte schreiend in die große Halle. Das Ende war grausam und blutig.«
Roselynne wusste um das absolute Recht eines Ehemannes über seine Gattin, aber sie konnte es dennoch nicht fassen, dass ein Ritter so weit gegangen sein sollte, es wirklich auszuüben. »Er hat sie doch nicht getötet?«
»Selbstverständlich hat er sie getötet. Lyane und den jungen Mann. Und er wurde in späteren Jahren nie müde, Justin für seine Tat zu loben. In seinem verdrehten Sinn für Ehre hatte Justin eine Heldentat begangen. Er hatte eine Dime entlarvt und dafür gesorgt, dass die liederliche Person ihre gerechte Strafe erhielt. Es ist ein Wunder, dass der Junge darüber nicht seinen Verstand verlor. Er wurde gezwungen, mit anzusehen, wie seine Mutter getötet wurde. Glücklicherweise erlitt der Graf einen Schlagfluss, als Justin zehn Jahre alt war. Danach wuchs er unter der Obhut seines Onkels auf. Jean d'Amonceux war ein redlicher, stolzer Mann, der aber sicher nichts dazu beigetragen hat, die Meinung zurechtzurücken, die der Junge von seiner Mutter und den Fehlem des weiblichen Geschlechts hatte. Seine eigene Gemahlin starb im Kindbett zusammen mit dem einzigen Sohn. Deswegen war Justin nach seinem Tode auch sein Erbe.«
Roselynne strich sich mit abwesender Geste über die Stirn. Deshalb also hatte ihn Sophia-Roses Verrat so über die Maßen tief getroffen. Aus diesem Grund war es ihm unmöglich, einer Frau zu vertrauen. Armer Justin.
»Mein Neffe ist von der männlichen Unfehlbarkeit ebenso überzeugt wie von der Schlechtigkeit der Frauen. Dein Bericht hat meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Er besitzt weder Herz noch Mitgefühl. Dennoch schuldet er dir die Ehre seines Namens. Wenn du dich hinter den Mauern von Montivilliers vergräbst, erweist du ihm einen Gefallen, den er nicht verdient.«
»Ich will mich nicht an ihm rächen«, hörte sich Roselynne zu ihrer eigenen Überraschung gestehen.
»Wer spricht von Rache«, hielt ihr Mutter Laurentine entgegen. »Es geht um die Ordnung der Dinge. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, diesem allzu schönen Seigneur nachzuweisen, dass er nicht so vollkommen ist, wie er annimmt. Sein Stolz kann einen gehörigen Dämpfer sehr wohl vertragen.«
»Und was ist mit meinem Stolz?«
Für einen jähen Augenblick bot die blasse Novizin der Äbtissin das Bild der unbezähmbaren
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