HERZ HINTER DORNEN
lieber Neffe«, korrigierte die Äbtissin sanft.
Dann trat sie zu Roselynne und zeichnete mit einer trockenen Fingerspitze ein leichtes Kreuz auf ihre Stirn. »Sei willkommen, liebes Kind. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass du in deinem jungen Leben schon so schlimme Sünden begangen haben sollst, dass sie lebenslange Buße erfordern.«
»Sie will ...«
»Schscht!«, unterbrach die Nonne Justin. Roselynne sah flüchtig die befehlsgewohnte Allüre der geborenen Nobeldame hinter ihrem bescheidenen Habit aufblitzen. »Die Dame de Cambremer wird mir sicher selbst erklären, was sie will, wenn sie erst einmal ihre verständliche Scheu überwunden hat. Nicht wahr, mein Kind?«
Sie winkte einer Nonne, die sich bescheiden im Hintergrund gehalten hatte. »Bring die Dame erst einmal ins Gästehaus, Megane. Ruht Euch aus, Kind, dann sehen wir weiter. Und du, mein Lieber, begleitest mich. Dann kannst du mir erzählen, was du getrieben hast, seit ich dich aus den Augen verloren habe. Ich nehme an, du hast dir inzwischen eine Gemahlin genommen? Hast du Kinder? Wie sieht es in d'Amonceux aus? Ich ...«
Die Stimme der Äbtissin verlor sich auf dem Gang und Roselynne sah den beiden Gestalten fassungslos nach. Justin ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzuwenden. Ohne ein Wort, ohne Geste, ohne Abschied. Sie ballte die Rechte zur Faust und biss in den Knöchel des Zeigefingers, um sich selbst zum Schweigen zu bringen. Nein, sie würde ihm nichts nachrufen. Weder einen Gruß noch einen Fluch. Sollte er doch verschwinden!
»Ihr könnt Euch ja kaum auf den Beinen halten«, stellte die Nonne besorgt fest, welche die Äbtissin Megane genannt hatte. »Kommt, ich werde Euch die Kammer zeigen, in der Ihr Euch ausruhen könnt. Sicher habt Ihr auch Hunger und Durst ...«
Roselynne nickte stumm und raffte ihre bescheidenen Röcke, um der eifrigen Klosterschwester zu folgen. Sie trug eine schmucklose schwarze Kutte und die weiße Haube, die sie unter ihrem schwarzen Schleier trug, umspannte eng ein blasses, längliches Gesicht mit samtig braunen Augen. Die Falten in ihren Mund- und Augenwinkeln sprachen dafür, dass sie die Mitte des Lebens überschritten hatte.
Roselynne warf ihr unter halb gesenkten Lidern einen vorsichtigen Blick zu. Würde sie auch noch so freundlich sein, wenn sie erfuhr, welches Kuckucksei der Graf von d'Amonceux seiner frommen Tante in das Nest dieses friedlichen Klosters gelegt hatte? Wenn man entdeckte, dass sie in der Hoffnung war und in Sünde gelebt hatte?
19. Kapitel
»Es ist Krieg im Land!«
Das Tuscheln und Fragen, die Sorge und die Angst drangen sogar hinter die Klostermauern von Montivilliers. Die frommen Schwestern verrichteten ihre Gebete nicht länger mit der gewohnten Andacht. Mutter Laurentine musste zu jener Schärfe des Tons und des Blickes greifen, die sie nur zu besonderen Gelegenheiten einsetzte. Sie verteilte ein so gerüttelt Maß an Arbeiten unter den Schwestern, dass auch die größte Klatschbase keine Zeit mehr fand, darüber nachzudenken, ob die königlichen Brüder Klostermauern respektierten oder nicht, wenn es darum ging, ein Reich unter sich aufzuteilen.
Mit fliegenden Röcken und wehendem Schleier eilte Laurentine danach in das Skriptorium, wo sich eine dunkle Gestalt im Schein dicker Kerzen über das neue Manuskript beugte, das sie emsig kopierte. Die Konzentration von Schwester Rose, wie sie alle in Montivilliers nannten, war eine so vollkommene, dass sie erst aufsah, als ihr die Äbtissin eine Hand auf die Schulter legte.
Mit einem Seufzer legte sie den Federkiel zur Seite und erhob sich von ihrem Hocker, die Augen gesenkt, das Antlitz eine blasse Maske ohne Regung.
»Ich habe die Andacht versäumt, es tut mir Leid, ehrwürdige Mutter. Ich habe das Läuten der Glocken nicht vernommen.«
»Du bist entschuldigt, Kind«, seufzte die Klosterfrau. »Immerhin ist es das heilige Evangelium unseres Herrn, das du da kopierst, und diese Worte sind ebenso ein Gebet wie die Gesänge in der Kirche. Dennoch solltest du deine Augen von Zeit zu Zeit ausruhen und im Kreuzgang ein wenig an die frische Luft gehen. Es tut dir nicht gut, die ganze Zeit so gebückt bei Kerzenlicht an diesem Pult zu hocken. Es schadet in dieser Länge dem Kind, für dessen Leben du die Verantwortung trägst.«
Unwillkürlich legte Roselynne die flachen Hände auf den schmalen Leib unter der Kutte. Sie spürte die kleine Wölbung, die nach nunmehr sechs Monaten deutlich davon kündete, dass ein Kind in
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