Herz im Spiel
Versen, mit denen er sich so gut auskannte, vortragen.
„Was möchten Sie denn hören, Mrs River?“, fragte er.
„Ach, ganz egal. Ich schwöre, Mr Desmond kann jedes Buch in der Bibliothek auswendig hersagen, Miss Marianne!“
„Vielleicht nicht gerade jedes “, korrigierte Desmond sie sanft.
„Tragen Sie etwas vor, das zu Silvester passt“, bat Mrs River.
Desmond überlegte einen Augenblick.
„Milton“, sagte er schließlich. „John Milton, Gelehrter und Poet. Was könnte besser zum neuen Jahr passen als ein Abschnitt aus dem Verlorenen Paradies ?“ Er erhob sich, räusperte sich und stand einen Moment schweigend da, um sich die Worte ins Gedächtnis zu rufen.
„Was hindert dann die Hand
für Leib und Geist mit einem Griff zu sorgen?
So sprechend, langte sie mit raschem Arm
zu böser Stunde pflückend nach der Frucht .
Sie brach, sie aß .
Die Erde spürte selbst
die Wunde, und es seufzte die Natur
aus ihrem Schoß durch alle Schöpfung auf .
In Weh bezeugend: Alles war verloren.“
Nachdem Desmond diesen ziemlich ernsten Vortrag beendet hatte, saßen die beiden Damen einen Augenblick still da. Dann klatschte Mrs River eifrig in die Hände und bedeutete Marianne einzufallen. Doch deren Applaus fiel alles andere als begeistert aus.
Merkwürdig, dass er diese Passage über den Sündenfall gewählt hat, dachte Marianne.
Unter den Fragen und Bemerkungen von Mrs River und Mr Desmonds bedächtigen Kommentaren ging der Abend schließlich vorüber.
„Sehen Sie nur, wie spät es ist“, sagte die Haushälterin endlich gähnend. „Das neue Jahr hat vor einer Dreiviertelstunde begonnen. Sie und Miss Marianne können so lange aufbleiben, wie Sie wollen, aber manch einer von uns hat morgen auch noch zu tun. Miss Marianne, Mr Desmond …“ Daraufhin stand sie von ihrem Sessel auf und hatte den Raum verlassen, ehe Marianne etwas einfiel, um sie zurückzuhalten.
„Mrs River hat leider recht“, sagte Desmond. Er stand neben seinem Stuhl. Als die Haushälterin aus dem Zimmer ging, hatte er sich höflich erhoben. „Das neue Jahr hat begonnen, ohne dass wir es bemerkt hätten. Ich fürchte, wir haben nicht miteinander angestoßen. Oder möchten Sie das dieses Jahr nicht?“
Er musterte Marianne forschend, denn er hatte ihren Stimmungswandel bemerkt. Soweit er wusste, waren sie an diesem Morgen noch Freunde gewesen, hatten einander zugelächelt, geredet, Höflichkeiten ausgetauscht und über die alltäglichen Dinge gesprochen, die Menschen, die eng zusammenlebten, teilten. Aber als sie sich heute Abend begegnet waren, hatten sie sich wie Fremde verhalten, kühl und distanziert. Sogar ganz am Anfang waren sie eine Spur vertrauter gewesen, denn damals hatte er versucht, sie zu verführen, und sie hatte in ihrer Naivität den Anschein erweckt, als sei sie durchaus dazu bereit.
„Oh nein! Lassen Sie uns auf das neue Jahr anstoßen!“, rief Marianne aus. In ihrer Stimme schwang etwas Anrührendes, Flehendes.
„Nun gut“, meinte Mr Desmond zögernd. Er wartete einen Augenblick für den Fall, dass Mariannes Meinung und ihre Stimmung sich von Neuem änderten. Als er sicher war, dass sie wirklich anstoßen wollte, wandte er sich zu der Anrichte um, auf der die Getränke standen. Für sich schenkte er reichlich irischen Whiskey ein und für sie eine blassrosa Flüssigkeit in einem schmalstieligen Kristallglas.
Er reichte ihr das Glas und hob das seine, um seinen Toast auszusprechen. „Auf das neue Jahr. Und möge es das beste unseres Lebens werden.“
Sie standen einander auf der steinernen Kamineinfassung gegenüber. Desmond blickte Marianne in die Augen. Er sah darin den Widerschein des Feuers und bemerkte den feuchten Glanz an ihrem Unterlid. Sie erinnerte ihn an ein furchtsames, verlassenes Kätzchen, einsam und verängstigt. Sein Mitgefühl für Marianne und den Zorn auf das, was ihr die Tränen in die Augen treten ließ, bewirkten, dass sein Herz schmerzhaft pochte.
Warum nur tut sie mir das an? dachte er unwillig und stürzte seinen Drink hinunter.
Er wischte sich die Lippen ab und stellte sein Whiskyglas auf dem Kaminsims ab. Marianne nippte vorsichtig an ihrem Getränk. Den Kopf gesenkt, enthüllte sie dabei ihren lilienweißen, geschwungenen Nacken. Desmonds Herz krampfte sich zusammen. Er wusste, was Begehren war, hatte es in seinen wilden Zeiten schon oft genug empfunden. Doch diesmal war es anders. Der Anblick ihres gebeugten Hauptes und ihre hilflose Haltung riefen in ihm das
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