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Herz im Spiel

Herz im Spiel

Titel: Herz im Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Cheney
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enthüllte ihr darüber hinaus, dass der Boden gefegt und die Kommode ziemlich staubfrei war. Von dem Wasserkrug und der Waschschüssel, die auf dem Möbelstück standen, war die dicke graue Schmutzschicht entfernt worden, die in den anderen Zimmern alle ungeschützten Flächen überzog.
    Verwundert blickte Marianne drein. Warum in aller Welt war dieser Raum geputzt worden? Offensichtlich war er noch vor Kurzem bewohnt gewesen – vielleicht noch vor ein paar Wochen.
    Marianne war völlig ratlos. Wer hatte nur hier übernachtet? Sie hielt ihre Kerze in die Höhe, drehte sich langsam um ihre Achse und spähte aufmerksam durch den ganzen Raum.
    Der Schein der Kerze fiel auf einen Gegenstand, der unter dem Rand der Kommode auf dem Boden lag. Marianne blieb stehen, hob ihn auf und stellte fest, dass sie einen Fingerhut in der Hand hielt, einen völlig normalen Fingerhut aus Metall, nur dass auf der Spitze etwas eingraviert war. Sie hielt ihn näher an die Kerzenflamme und fuhr zusammen, als ihr klar wurde, dass sie das kleine Nähwerkzeug in ihrer Hand kannte.
    An ruhigen Abenden hatten sich an der Akademie die Mädchen oft vor dem großen Kamin im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss zusammengefunden, um über ihren Handarbeiten zu sitzen. Marianne erinnerte sich an einen Abend, an dem Sylvia Prince ihre Nachbarin gewesen war. Sie hatte eine Bemerkung über Miss Princes Geschicklichkeit gemacht, und Sylvia hatte ganz ernst aufgeblickt und Marianne erklärt, Marianne fehle nur das richtige Werkzeug.
    „Das richtige Werkzeug?“, hatte Marianne lächelnd zurückgefragt. „Ich habe Nadel und Faden. Was sollte ich sonst noch brauchen?“
    „Einen Fingerhut“, hatte Sylvia gesagt. „Einen richtigen Fingerhut, genau passend und nach Maß gefertigt. Im Orient stellt man so etwas her. Diesen hier hat mir natürlich mein Vater mitgebracht.“ Und sie hatte Marianne ihren Fingerhut hingehalten, damit sie sehen konnte, dass an der Spitze S.P . eingraviert war.
    „Ich verstehe“, hatte Marianne erwidert. „Nun, wenn das so ist, werde ich wohl niemals eine so ausgezeichnete Näherin wie du. Mein Vater ist verstorben, und auch als er noch am Leben war, ist er noch nie weiter Richtung Osten gereist als bis nach Shoeburyness.“
    „Das ist bedauerlich“, hatte das andere Mädchen, immer noch völlig ernst, geantwortet. Marianne war nicht erstaunt, dass ihre ironische Antwort an Sylvia wirkungslos abgeprallt war.
    Nun stand Marianne in dem sauberen, gelüfteten Zimmer in dem offensichtlich unbewohnten Nordflügel der zweiten Etage von Haus Kingsbrook und dachte an diese Worte zurück.
    Die Kerze in ihrer Hand flackerte und tauchte die Buchstaben, die sie auf der Spitze des Fingerhuts entdeckt hatte, in helles Licht – die Initialen S.P .

10. KAPITEL
    Das Feuer im Salon konnte Marianne nicht wärmen, obwohl sie es hell brennen ließ und sich direkt davor setzte.
    Sie hatte sogar James angewiesen, einen dicken Holzscheit aufzulegen, der inzwischen auch halb verbrannt war. Aber trotzdem wurde ihr einfach nicht warm. Sie hatte nicht bemerkt, dass es im zweiten Stock kalt gewesen war, doch als sie die Treppe hinuntergestiegen war, war sie völlig durchgefroren gewesen.
    Mrs River und Candy hielten sich im ersten Stock auf, wo die Haushälterin dem neuen Mädchen zeigte, wohin dies und jenes gehörte. Marianne war allein. Sie hockte auf dem Teppich, direkt vor dem Feuer, und starrte in die Flammen.
    Mr Desmond hielt sich immer noch in der Bibliothek auf, wo er den ganzen Tag verbracht hatte. Vielleicht las er, obwohl Marianne argwöhnte, dass er sich jetzt, am Nachmittag, möglicherweise ein wenig ausruhte. Der Schlaf des Gerechten oder der des Verdorbenen?
    Marianne schossen die Gedanken durch den Kopf. Nicht nur der Fingerhut – Sylvias Fingerhut – beunruhigte sie. Dazu die Bilder und die aufgeschnappten Gesprächsfetzen. Es war wie ein Puzzle, das sich nach und nach zu einem Bild zusammensetzte.
    Während sie die emporzüngelnden Flammen betrachtete, meinte sie fast, die Worte in einer bekannten, verhassten Handschrift vor sich zu sehen: „Daher ist mein Vorschlag, diesen Gentlemen junge Damen zuzuführen, frisch und unverdorben … wobei Sie die Kunden beschaffen würden und ich die Mädchen.“
    Nach der Lektüre dieses abscheulichen Briefes hatte Marianne diesen unter den Poststapel auf Mr Desmonds Schreibtisch gesteckt. Aber die Worte selbst konnte sie gar nicht so tief in ihrer Erinnerung versenken, dass sie sie hätte

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