Herz im Spiel
zweistündigen Vortrag über ihre Lebensgeschichte.
Mrs Dudley und Miss Leeming brachten es fertig, Mr Desmond fast die ganze Woche zwischen Weihnachten und Neujahr mit Beschlag zu belegen. Doch zu Silvester lehnte Mr Desmond alle Einladungen, die auf Kingsbrook eingingen, ab und tat allenthalben kund, er habe vor, das neue Jahr in seinem eigenen Heim und in Gesellschaft seines Mündels zu begehen.
Marianne war gerührt. Silvester auf Kingsbrook besaß für sie eine besondere Bedeutung, doch sie war sich nicht sicher gewesen, ob Desmond sich dessen bewusst war. Letztes Jahr hatte sie solche Angst gehabt, von Farnham hierher zu fahren, Angst, ihn wiederzusehen, sich im selben Haus, unter demselben Dach wie er aufzuhalten.
Und als sie schließlich kam, war er so freundlich gewesen, hatte sogar seine Nachbarn zu Weihnachten eingeladen, als sie es vorgeschlagen hatte. Unmittelbar nach Weihnachten hatte Mr Desmond Kingsbrook für ein paar Tage verlassen, und heute, ein Jahr später, konnte Marianne sich eingestehen, dass sie ihn vermisst hatte. Er war an Silvester mit ein paar Freunden aus Reading zurückgekehrt. Ziemlich laut waren sie gewesen. Sie hatten Lieder aus den Tanzsälen gesungen und Mrs River und Alice den ganzen Abend lang zwischen Küche und Salon hin- und hergeschickt, um Essen und Getränke zu servieren. Die ganze Zeit war sie sich in dieser Gesellschaft lautstarker Erwachsener wie ein kleines Kind vorgekommen, aber Mr Desmond hatte sie nicht auf ihr Zimmer geschickt. Er hatte ihr erlaubt zu bleiben und den Liedern und Geschichten zuzuhören, obwohl er ein paar davon um ihretwillen abgebrochen hatte.
Damals hatte sie ihn auch zum ersten Mal laut herauslachen hören, ein volltönendes, tiefes Lachen, das er zwar selten hören ließ, aber unverkennbar war.
Um Mitternacht hatte Mrs River Marianne ein fingerhutgroßes Glas mit Sherry in die Hand gedrückt.
„Mr Desmond meint, Sie sollen das trinken“, hatte Mrs River gesagt und missbilligend den Kopf geschüttelt.
Die Männer prosteten einander unter Grölen zu, aber Desmond hatte sich zu ihr gewandt, sein Glas erhoben und gesagt: „Möge das kommende Jahr das beste Ihres Lebens werden.“
Während der letzten zwölf Monate hatte sie diese Worte als eine Art Segensspruch betrachtet.
„Wir werden wieder miteinander auf das neue Jahr anstoßen“, erklärte Desmond ihr jetzt.
Marianne lächelte bei dem Gedanken, dass er sich an diese Gelegenheit erinnerte, und ihre Wangen nahmen einen reizenden rosigen Ton an.
„Wenn ich allerdings den heutigen Tag für mich allein haben dürfte, wäre das die Gelegenheit, einmal zu Atem zu kommen“, setzte er hinzu. „Miss Leeming fährt am Dienstag nach Manchester zurück. Ich glaube, jetzt weiß ich, wie sich die unschuldigen Tiere im Wald fühlen, sobald die Jagdsaison sich dem Ende nähert. Wenn ich bloß noch ein paar Tage länger aushalte, wird Miss Leeming ohne eine Trophäe, die sie sich an die Wand hängen kann, nach Hause fahren müssen.“
Marianne lachte und schloss die Tür von Mr Desmonds Bibliothek.
Mrs River war damit beschäftigt, Candy ihre Pflichten zu erklären, und Marianne hatte das Gefühl, sie sollte sich auch hier nicht einmischen. So war sie sich selbst überlassen, und da es draußen zu kalt war, um sich ins Freie zu wagen, hatte sie mit einem Mal Lust, auf Entdeckungsreise innerhalb des Hauses zu gehen.
Sie hatte nicht oft die Gelegenheit, durch die unbewohnten Räume von Kingsbrook zu spazieren. Das Haus war äußerst weitläufig, und in den oberen Etagen standen ganze Zimmerfluchten seit Jahrzehnten leer. Marianne trug eine Kerze bei sich, aber bald wünschte sie, sie hätte zwei oder drei mitgenommen, und dazu einen wärmeren Mantel. Im Nordflügel drücktesie mehrere Türen im Flur des zweiten Stocks auf, wobei sie Staub und Spinnweben aufwirbelte und die Türangeln kreischten.
Doch in der Nähe der Hintertreppe, die zur Küche führte, ließ sich eine Tür verblüffend leicht öffnen. Das unstete Licht der Kerze erhellte nicht die erwartete Staubwolke. Neugierig geworden, stieß Marianne die Tür ganz auf und trat in den Raum, um ihn in Augenschein zu nehmen. Als erstes bemerkte sie, dass das Bett zurechtgemacht und nicht mit den schweren Überzügen aus Sackleinen abgedeckt war, die den Großteil des Mobiliars auf dieser Etage einhüllten. Die Steppdecke auf dem Bett war nicht neu, aber brauchbar.
Sie trat heran, um die Decke genauer zu betrachten, und die Kerze
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