Herz im Spiel
sehr menschenfreundliche Handlungsweise. Wie betäubt studierte sie die Dokumente, obwohl sie sich nicht so weit strafte, den Brief noch einmal zu lesen.
Schließlich legte sie die Papiere Mrs Avery vor, die sich so begierig darauf stürzte wie eine Spinne, die eine Fliege in ihrem Netz gefangen hat, und sich augenblicklich der Herausforderung stellte, die es bedeutete, Marianne an der Universität einzuschreiben.
Briefe gingen hin und her. Mr Desmond gab Nachricht, er werde seinen Einfluss geltend machen, um sicherzustellen, dass die junge Dame zugelassen würde. Als sie dies hörte, zog Mrs Avery überrascht die Augenbrauen hoch. Vielleicht fragte sie sich ebenso wie Marianne, über welchen Einfluss Mr Desmond an der Universität von Reading verfügen mochte.
Ende Mai rief Mrs Avery Miss Trenton in ihr Büro und überreichte ihr feierlich einen Brief, in dem ihre Zulassung zum Studium an der Universität von Reading bestätigt wurde. Die Vorlesungen sollten im Herbst beginnen. Marianne wurde in diesem „Tempel der Bildung“ offensichtlich nicht mit offenen Armen empfangen, aber man würde ihre Anwesenheit hinnehmen.
„Es ist für gewöhnlich nicht unsere Praxis, Miss Trenton“, hieß es in dem Brief, „Frauen als Studentinnen an der Universität von Reading zuzulassen, aber die nachdrückliche Empfehlung von Mr Desmond hat uns bewogen, Ihnen das Studium zu gestatten.“
Also ließ Marianne sich von ihren Lehrern feierlich die Hand schütteln, umarmte Nedra voller Zuneigung und ließ sich ihre herzlichen Glückwünsche gefallen. Aber Marianne war nicht die einzige Schülerin, die die Akademie zum Ende des Halbjahres verlassen würde. Judith würde wie Alice auf Kingsbrook im Verlauf des Jahres heiraten und stellte bereits das heitere, gelassene Gebaren einer erfahrenen Matrone zur Schau. Die anderen Mädchen aus ihrer Klasse sollten alle „debütieren“.
Es würde Bälle und Feste geben und Verabredungen unter strenger Aufsicht. Bis Weihnachten würden sicherlich viele ihrer Freundinnen aus der Akademie von jungen Herren schon ernsthaft für eine gemeinsame Zukunft umworben werden.
Selbst wenn Marianne nicht die Möglichkeit hatte, auf Bällen hofiert zu werden, müsste sie dennoch Erfolg haben. Mrs Avery nannte die Studenten „eine Horde ahnungsloser, unausgegorener, rotwangiger Jünglinge“. Wenn sie allerdings nur ahnungslos genug waren, würde sie bis Ende des Jahres einem von ihnen gewiss einen Heiratsantrag entlockt haben. Marianne jedoch besaß zu viel Selbstachtung, um dankbar jedes Heiratsangebot anzunehmen. Sie wünschte sich keinen naiven Jüngling, sondern einen erfahrenen, reifen Mann, der genau wusste, was er wollte. Und graue Augen sollte er auch haben …
Marianne fuhr zusammen und verdrängte energisch diese Gedanken. Die Entscheidung war getroffen, die Würfel waren gefallen – tatsächlich durch ihr eigenes Tun. Und wenn er wünschte, dass sie heiratete und aus seinem Leben verschwand, würde sie sich nicht dagegen wehren, obwohl sie wenigstens wählerisch sein wollte.
Ende August kam die Kutsche, um sie für immer aus Farnham fortzuführen. Den Rest des Monats würde sie auf Kingsbrook verbringen, doch am ersten September erwartete man sie an der Universität von Reading.
Die kurze Zeit, die sie auf Kingsbrook verlebte, war erfüllt von Mrs Rivers hektischen Versuchen, Mariannes Garderobe und ihre Besitztümer für ihr Abenteuer instand zu setzen, ein Vorhaben, das der Wirtschafterin ohnehin viel zu gewagt für eine Dame von Stand erschien.
Am Abend vor Mariannes Abreise war endlich alles bereit, und die Wirtschafterin konnte sich endlich ein paar ruhige Augenblicke in ihrem Salon gönnen. Marianne hatte sich zu ihr gesellt, und die beiden saßen einträchtig beieinander.
Im Haus war es still, und die warme Spätsommerluft war drückend. Mrs River begann einzunicken. Aber bevor sie in einen wohlverdienten Schlaf glitt, brach Marianne das Schweigen.
„Mrs River“, begann sie, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Tonfall zu verleihen und ihre Frage unbedeutend klingen zu lassen. „Ist eigentlich jemand zu Besuch hier auf Kingsbrook gewesen? Ein Freund von Mr Desmond vielleicht?“
Erschrocken blickte die Wirtschafterin auf. „Wie kommen Sie darauf?“, wollte sie wissen.
„Ich habe bemerkt, dass einer der Räume im Obergeschoss offensichtlich vor Kurzem benutzt worden ist.“
Es stand außer Frage, dass Sylvia Prince inzwischen wieder mit ihrem Vater
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