Herz im Spiel
hatte, doch an diesem Abend wurden die Mädchen zusammengerufen und erhielten die strikte Anweisung, das Gelände der Akademie nicht zu verlassen, ja sogar, sich allein nicht allzu weit von den Hauptgebäuden zu entfernen.
„Ach, Miss Trenton, wir wurden ja heute Morgen leider unterbrochen. Was wollten Sie mir mitteilen?“, sprach Mrs Avery Marianne an, als die Versammlung sich auflöste.
„Ich wollte Ihnen mitteilen … Ich wollte sagen … Ich wollte Ihnen bloß sagen, dass wir sehr glücklich hier an der Farnham-Akademie sind, ich und die meisten meiner Mitschülerinnen“, erklärte Marianne schwach.
Überzeugend klang das nicht, aber sie wusste wirklich nicht, was sie Mrs Avery jetzt noch sagen sollte. Wenn Miss Prince sich bei ihrem Vater aufhielt, wie war dann Sylvias Fingerhut in ein Zimmer im zweiten Stock von Haus Kingsbrook geraten? Und wenn Miss Prince bei ihrem Vater war, wessen konnte sie dann Mr Desmond beschuldigen?
Marianne Trenton war eine außerordentlich intelligente junge Frau. Zu Beginn dieses Winterhalbjahres mussten ihre Lehrer, selbst Mrs Lynk mit ihren übersteigerten Ansprüchen an gute Umgangsformen, zugeben, dass Miss Trenton alles, was sie ihr vermitteln konnten, gründlich bewältigt hatte. Allerdings brauchte man auch nicht allzu klug zu sein, um zu wissen, dass es mehr zu lernen gab, als sie zu lehren hatten.
„Sie sollten nach Reading auf die Universität gehen“, meinte Mrs Avery zu Marianne.
Marianne blickte ungläubig drein. Zu jener Zeit kam ein Studium für junge Frauen für gewöhnlich nicht in Betracht. Sie selbst hatte jedenfalls noch nie daran gedacht.
„Ich … ich glaube nicht, dass ich …“, stammelte sie.
„Aber sicher doch, Miss Trenton. Sogar sehr gut. Sie wären eine mustergültige Studentin. Ich habe keinen Zweifel, dass Sie mit Leichtigkeit die meisten dieser jungen Gecken in die Tasche stecken könnten, die sich Studenten nennen“, versicherte Mrs Avery.
„Mein Vormund …“, begann Marianne in einem weiteren sinnlosen Versuch, in diesem Gespräch mit der Schulleiterin zu Wort zu kommen.
„Was glauben Sie, wer diesen Vorschlag zuerst gemacht hat? Ich bitte Sie!“
„Etwa Mr Desmond?“, fragte Marianne zweifelnd.
„Kein anderer“, sagte Mrs Avery. „Nun baue ich darauf, dass Sie, Miss Trenton, beweisen, dass wir Frauen ebenso klug, flink, fleißig und ernsthaft bemüht sind wie jeder beliebige Mann. Werden Sie das für mich tun?“
Marianne zögerte, ihre Zusage zu geben. Sie hatte nicht das Gefühl, etwas beweisen zu müssen, und fragte sich nur, was ihr Vormund wohl im Sinn habe.
Knapp eine Woche später erhielt sie die Antwort.
Aus Kingsbrook kam ein Brief für sie – ein dicker Umschlag voller Dokumente und Bewerbungsformulare, zusammen mit einem Schreiben von Mr Desmond.
„Miss Trenton“ , begann er förmlich.
Im Frühling werden Sie zwei Schuljahre an der Farnham-Akademie abgeschlossen haben. Als ich mit Mrs Avery sprach, sagte sie, die Mädchen verließen für gewöhnlich die Akademie mit achtzehn. Im November haben Sie dieses Alter erreicht und können weiter fortschreiten. Es bleibt natürlich die Frage, wohin. Ich schlage vor, dass Sie in Betracht ziehen, einige Kurse an der Universität zu belegen .
Wie Sie wissen, befinde ich mich nicht in der Position, Sie in die Gesellschafteinzuführen. Hier auf Kingsbrook können Sie nicht „debütieren“ – ich glaube, das ist der richtige Ausdruck dafür. Ich besitze keine enge Verwandte oder Freundin, die Ihnen diesen Dienst erweisen könnte. Wie Sie sehen, habe ich eingehend über die Angelegenheit nachgedacht, und jetzt, da Sie ein gewisses Alter erreicht haben, kann ich mir nichts Besseres vorstellen, als Sie an die Universität von Reading zu schicken, einen für eine junge Dame sicherlich guten Heiratsmarkt. Denn dort werden Sie gewiss einige passende junge Männer kennenlernen .
Einen Moment lang blickte Marianne verständnislos auf das Papier. Heiratsmarkt? Ja, natürlich. Das war doch ganz klar. Sie hatte ihn abgewiesen, und folglich hatte Mr Desmond jetzt nichts anderes im Sinn, als sich die Last, die sie für ihn darstellte, vom Halse zu schaffen.
Ein Bewerbungsformular für die Universität lege ich bei. Bitte sehen Sie es durch, und denken Sie ernsthaft über meinen Vorschlag nach .
Ihr ergebener Diener
P. Desmond
Marianne fühlte sich widersinnigerweise verletzt durch Mr Desmonds vernünftige und, wenn man bedachte, welche anderen Möglichkeiten er hatte,
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