Herz in Gefahr
Sie schwang selbst auf, und einen Moment glaubte er, das Zimmer wäre leer. Er sah sich voller Abscheu um. Es übertraf jede Vorstellung. Fliegen umsummten einen halb leer gegessenen Teller. Der Raum war bis auf einen Stuhl ohne Lehne und eine Holzkiste leer. Ein Haufen von Lumpen lag auf dem Boden, aber es gab weder ein Bett noch eine Matratze.
“Na, Charlie, wie gefällt’n dir das? Ein richtiger Palast, wa?” Ein Gesicht erschien unter dem Lumpenhaufen.
Der Priester starrte seine Mutter ohne die geringste Zuneigung an. “Was machst du hier?”, fragte er. “Ich dachte, du wärst längst fort.”
“In einer langen Holzkiste? Das hätt’ dir so gepasst.”
Er stimmte dieser Annahme insgeheim aus vollem Herzen zu, aber er durfte sie nicht reizen. “Ich meinte nur, ich dachte, du hättest einen besseren Ort gefunden.”
“Ach ja? Sieh mich mal an, Charlie!” Mit einer schnellen Bewegung warf sie die Lumpen beiseite und kämpfte sich auf die Füße. Truscott wurde sich des scharfen Gingestanks bewusst.
“Du bist betrunken”, klagte er sie an.
“Mit einem Penny betrunken, mit zwei Pennys besoffen”, sagte sie grinsend. “Na, mein Sohn, wie würd’ es dir gefall’n, mich auf der Bühne zu sehen?” Sie hielt ihm das Gesicht so nah wie möglich hin. Der Geruch, der von ihr ausging, war kaum zu ertragen.
Er hatte sie seit Jahren nicht gesehen, und ihr stark geschminktes Gesicht erschreckte ihn. Nellie Prescott war eine Schönheit gewesen. Ihr Aussehen war das Einzige, das sie auf den Markt werfen konnte. Jetzt war sie dürr, ihr graues Haar ungepflegt und ihr Gesicht aufgedunsen. Er versuchte erfolglos, seine Gefühle zu verbergen, und sein Ausdruck machte sie wütend.
“Feiner Lackel geword’n, wa? Schämst dich für deine alte Mutter? Du hast nichts getan, um mir zu helfen, Charlie. Jetzt ist es Zeit, dass du blechst.”
“Sei nicht dumm”, fuhr er sie rau an. “Ich bin nur ein armer Geistlicher.”
“Und bald ein reicher. Du warst schon immer schlau, mein Kleiner. Jetzt wird mir deine vornehme Frau helfen.”
Sein Gesicht verdüsterte sich, und der Ausdruck in seinen Augen war beängstigend. Sie wich vor ihm zurück.
“Du hältst dich von ihr fern”, sagte er leise. “Muss ich dich daran erinnern, was ich mit denen tue, die sich mir in den Weg stellen?”
Sie machte den schwachen Versuch, ihm die Stirn zu bieten. “Ich werd’ nichts tun, was du nicht willst, aber ich brauch’ Geld, Charlie. Selbst die Kerle in unsrer Gegend woll’n mich nicht mehr, jetzt wo ich krank bin …”
Der Priester war kurz davor gewesen, ihr Handgelenk zu packen, doch jetzt wich er zurück. Dem Himmel sei Dank, er hatte sie nicht berührt! Es fiel ihm nicht schwer zu begreifen, an welcher Krankheit sie litt. Es war eine häufige Todesursache bei Prostituierten.
“Hier!” Er warf eine Hand voll Münzen auf die Holzkiste. “Mehr habe ich nicht bei mir.”
“Das ist nicht viel, Charlie. Kannst du morgen komm’?”
“Nein.” Er wollte weitersprechen, doch in diesem Moment kamen ein Mann und eine Frau herein.
“Is’ egal, Nellie. Morgen geh’n wir in die Stadt und hören den Reverend predigen. Wie ich hör, soll es echt ein Erlebnis sein.” Die Frau lachte, und sogar ihr Begleiter lächelte. Sie hatten ihn in der Hand, und sie wussten es. Truscott knirschte mit den Zähnen. Er wusste, wann er geschlagen war.
“Ich komme zur gleichen Zeit”, sagte er.
3. KAPITEL
Judith hatte versprochen, den Reverend zu einem Wohltätigkeitstee zu begleiten, dessen Erlös den Waisenkindern zugutekommen sollte. Als er nicht erschien, ging sie allein und erfuhr, dass er in Belangen der Gemeinde fortgerufen worden war.
Am Abend des nächsten Tages wurde eine Nachricht gebracht, in der der Reverend ihr erklärte, dass er in dringenden familiären Angelegenheiten unterwegs sei. Das betrübte Judith nicht sehr. Im Grunde war es eher eine Erleichterung, dass sie nicht gezwungen sein würde, seinen salbungsvollen Bemerkungen zuzuhören.
Sie tadelte sich wegen ihrer unwürdigen Gedanken. Ihr Verlobter war ein guter Mensch, das glaubte Judith von ganzem Herzen und machte sich Vorwürfe, weil sie nicht vollkommen aufrichtig zu ihm war. Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass sie einen Roman schrieb? Es konnte keinesfalls als passende Betätigung für die Frau eines Priesters gelten.
Es war ihr nicht beschieden, für lange Zeit in Frieden gelassen zu werden. Zur Mittagszeit des darauf folgenden Tages teilte
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