Herz in Gefahr
Aveton zur Rede gestellt. Es war ein unerfreuliches Gespräch geworden, bei dem Judiths Stiefmutter ihre Unschuld beteuert und Prudence in solch eine Wut geraten war, dass Mrs Aveton sich gezwungen sah, ihre verleumderischen Bemerkungen zurückzunehmen.
Doch da war der Schaden schon geschehen, und Judith hatte es nicht mehr ertragen. Obwohl es ihr das Herz brach, es zu tun, hatte sie Dan fortgeschickt, damit er nicht mehr unter der Boshaftigkeit ihrer Stiefmutter zu leiden hatte.
Dan kämpfte mit allem, was in seiner Macht lag, gegen ihre Entscheidung an, aber Judith blieb fest. Seine Ehre und sein guter Name standen auf dem Spiel, und Judith traute Mrs Avetons Versprechen nicht, ihre Angriffe zu unterlassen. Die Intrigen ihrer Stiefmutter mochten vielleicht subtiler werden, aber sie würden nicht aufhören.
Als Judith jetzt ins Haus zurückkehrte, das sie mit ihren beiden Halbschwestern und deren Mutter teilte, bedauerte sie, heute in der Mount Street vorgesprochen zu haben. Prudence und Elizabeth waren über ihre Verlobung schockiert gewesen, aber wie hätte sie ihnen ihre Gründe erklären können?
Seit der Neuigkeit von ihrer Erbschaft war das Leben mit ihrer Familie unerträglich geworden. Mrs Aveton und ihre Töchter machten sie unablässig zur Zielscheibe ihrer missgünstigen Attacken, aber sie konnte nichts dagegen tun. Einer Dame ihres Alters war es nicht gestattet, einen eigenen Haushalt zu führen, selbst wenn sie die Mittel dazu besaß. Der ständige Streit im Haus trieb sie fast zur Verzweiflung.
Und dennoch hatte sie den Antrag des Reverend nicht nur deshalb angenommen. Seine Freundlichkeit ihr gegenüber und die Art, wie er gegen ihre Stiefmutter für Judith Partei nahm, hatten sie gerührt. Mrs Aveton schien sogar ein wenig Angst vor ihm zu haben. Und wirklich bot der Priester mit seiner hochgewachsenen, hageren Gestalt einen einschüchternden Anblick. Immer in Schwarz gekleidet, blitzten seine tief liegenden Augen wie die eines Fanatikers auf, wenn er seine Ermahnungen gegen die Sünde mit Donnerstimme von der Kanzel herunterschallen ließ.
Zu Judiths Überraschung hatte Mrs Aveton seine Werbung akzeptiert. Wahrscheinlich begrüßte sie die Gelegenheit, das Mädchen loszuwerden, das ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen war.
Judith durchquerte die Halle, um die Zuflucht ihres Zimmers aufzusuchen. Ihre Gedanken waren in höchstem Aufruhr. Dans Anblick hatte sie an ihren überwunden geglaubten Kummer erinnert. Sie hatte ihn nicht vergessen. Der Schmerz in ihrem Herzen war heute noch genauso heftig wie vor sechs Jahren.
Ein Lakai hielt sie auf, bevor sie die Treppe erreichte. “Madam wünscht, Sie zu sehen, Miss.”
Judith ging in den Salon, wo Mrs Aveton an ihrem Sekretär saß.
“Da bist du ja endlich!” Es klang kein Willkommen in ihrer Stimme mit. “Selbstsüchtig wie immer! Ist dir nicht der Gedanke gekommen, mir bei diesen Einladungen zu helfen?”
“Es tut mir leid, Ma’am. Wenn Sie es erwähnt hätten, wäre ich zu Hause geblieben.” Judith sah erstaunt den großen Stapel von Karten an. “So viele? Ich glaubte, wir hätten uns auf eine ruhige Hochzeit geeinigt.”
“Unsinn! Reverend Truscott ist ein Mann von Bedeutung. Seine Hochzeit kann nicht als nebensächliche Angelegenheit abgehandelt werden. Sie muss in seiner eigenen Kirche stattfinden, und er sagt, ihr werdet vom Bischof selbst getraut werden.”
“Er ist heute vorbeigekommen?”
“Jawohl, und er war nicht erfreut, dich nicht vorzufinden. Man sollte glauben, dass du auf ihn warten würdest. Was für ein unverständliches Gebaren du doch an dir hast! Du zeigst nicht das geringste Interesse an dem Empfang, dem Menü, den Musikanten oder auch nur an deiner Aussteuer.”
“Ich werde nur sehr wenig brauchen”, sagte Judith ruhig. “Ma’am, wer soll für all das zahlen? Ich möchte Ihnen nicht solche Kosten verursachen.”
Eine hässliche Röte überzog Mrs Avetons Wangen. “Die Kosten tragen selbstverständlich die Braut und ihre Familie. Wenn du verheiratet bist, wird dein Gatte dein Vermögen kontrollieren. Die Gläubiger werden bis dahin warten.”
“Ich verstehe.” Judith wurde klar, dass sie in die eigene Börse würde greifen müssen. “Soll ich die Einladungen für Sie zu Ende schreiben?”
“Du kannst weitermachen. Herrje, es gibt so viel zu tun. Meine Mädchen sind zumindest mit ihren Roben zufrieden.”
Judith erwiderte nichts, während sie sich die Namensliste ansah. Ein überraschter
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