Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herz ueber Bord

Herz ueber Bord

Titel: Herz ueber Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
Vom Netzwerk:
viel besser klarzukommen als ich. Dabei hatte doch sie ihre große Liebe verloren, jeder kommende Tag, jede Woche, jeder Monat und jedes Jahr würde nun völlig anders verlaufen, als sie es sich jemals vorgestellt hatte. Nicht, dass meine Mutter ständig irgendwelche Pläne gemacht hätte, nein, ganz bestimmt nicht. Sie lebte im Hier und Jetzt, das hatte meine Großtante schon ziemlich treffend formuliert, aber Pa war schließlich immer und überall mit dabei gewesen. Und jetzt, ganz plötzlich, gab es ihn nicht mehr.
    Ich trug sein Bild, sein Lachen, seine Wärme in meinem Herzen. Das hatte mir auch früher schon geholfen, wenn er mal längere Zeit beruflich unterwegs gewesen war und ich ihn eigentlich dringend gebraucht hätte. Aber Mam musste er doch auch körperlich fehlen. Wie viele Nächte hatte er bei ihr gelegen, hatte sie ihn berühren, mit ihm reden, kuscheln und Sex haben können. Das war nun für immer vorbei. Und trotzdem lebte sie so, als ob sich für ihre Zukunft überhaupt nichts geändert hätte.
    Â»Vielen Dank, Will, das stimmt so«, hörte ich Tante Grace sagen. Ich zuckte zusammen. Offensichtlich war ich so tief in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich unsere Ankunft in Richmond verpasst hatte. Außerdem wurde mir erst in diesem Moment bewusst, dass der Fahrer am Flugplatz gar nicht nach dem Weg gefragt hatte. Entweder hatte dieser Will meine Großtante zuvor bereits hingefahren, oder diese Insel gehörte zu den Gegenden, wo jeder jeden kannte.
    Ich griff nach meinem Rucksack, öffnete die Wagentür und stieg aus. Das Taxi hatte in einer Auffahrt gehalten, deren Boden aus einer kiesdurchsetzten Grasfläche bestand. Will hob mein Gepäck aus dem Kofferraum und verabschiedete sich.
    Â»Willkommen auf Gracie’s High «, sagte Tante Grace. »Ich hoffe, dir gefällt dein neues Zuhause.«
    Mein neues Zuhause? Ich schüttelte den Kopf. Sie redete ja schon so, als ob ich für immer hierbleiben wollte!
    Tante Grace schien meine Irritation zu bemerken und fügte lächelnd hinzu: »Für die nächsten sechs Monate.«
    Ich zog den Trageriemen des Rucksacks enger um meine Schulter, kniff die Augen zusammen und sah mich um.
    Das Grundstück umfasste zwei Cottages, die in einem Abstand von circa dreißig Metern in einem Neunzig-Grad-Winkel zueinander standen. Beide waren gleich groß, aus groben gelben Natursteinen gebaut und mit roten Granitschindeln gedeckt. Der Garten war durch windschiefe Zäune in einzelne unterschiedlich große Abschnitte unterteilt, deren Zweck sich mir jedoch nicht erschloss. Außerdem gab es Obstbäume, an denen im Gegensatz zu den Büschen allerdings noch kaum ein Blatt spross, ein Gewächshaus und einen Schuppen.
    Â»Im letzten Sommer habe ich das Dach anheben und ein zusätzliches Apartment einbauen lassen«, sagte Tante Grace. Sie schlang mir ihren Arm um die Schultern und drückte mich an sich. »Als ob ich geahnt hätte, dass du kommen würdest.«
    Â»Ach, bestimmt hast du einfach gehofft, dass Mam oder wir alle zusammen dich irgendwann mal besuchen«, sagte ich.
    Â»Rafaela?« Meine Großtante legte ihren Kopf in den Nacken und lachte. »Bestimmt nicht.«
    Â»Wieso nicht?«, fragte ich erstaunt.
    Â»Weil …« Sie zog eine Schnute und plötzlich war ihr Lachen vollkommen verschwunden. »Ach, das ist eine lange Geschichte «, brummte sie. »Die sollte sie dir vielleicht lieber selbst erzählen.«
    Ich verstand überhaupt nichts mehr. Wieso tat meine Großtante so geheimnisvoll?
    Â»Ruf sie endlich an«, sagte sie mürrisch. »Und dann frag sie.«
    Ich nahm den Rucksack von der Schulter und schob meine Hand hinein. »Darf ich dich zuerst etwas fragen?«
    Â»Natürlich!«, blaffte sie und warf ihre Arme in die Luft. »Das tust du doch ohnehin schon die ganze Zeit.«
    Unentschlossen nagte ich an meiner Unterlippe. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war meine Großtante sehr aufgebracht. Vielleicht war es besser, sie erst mal nicht weiter zu löchern, andererseits musste ich es einfach wissen. »Kennst du einen Javen Spinx?«
    Mit dieser Frage schien sie überhaupt nicht gerechnet zu haben. Ein paar Sekunden lang starrte sie mich einfach nur an.
    Â»Nein«, sagte sie schließlich. »Nie gehört.«
    Ich sah ihr an, dass sie log, und ich sah auch, wie schwer ihr das fiel.

Weitere Kostenlose Bücher