Herz ueber Bord
auch das Jucken über den Knöcheln wieder da.
Also doch kein Schutzengel, dachte ich. Und wenn, dann einer mit Prinzipien. Schutz nur gegen Gefälligkeit, und ich war ihm ganz offenbar nicht gefällig genug. Eine Wasserphobikerin, die sich nicht darum scherte, dass die Meere mit Chemikalien und Fischleichen vergiftet wurden, und die sich auÃerdem herausnahm, ganze sechs Monate in der Weltgeschichte abzuhängen, ohne etwas wirklich Sinnvolles zu tun.
»Ich bewundere Sie«, sagte Javen Spinx zu meiner Ãberraschung. »Und ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie auf dieser kleinen Kanalinsel finden, was Sie suchen.«
Das waren die letzten Worte, die er an mich richtete. Danach war er eigentlich nicht mehr da, obwohl er natürlich immer noch neben mir saÃ. Sein Brustkorb hob und senkte sich, aber ich konnte seinen Atem nicht hören. Seine Gesichtszüge wurden wächsern und sein Blick glitt in eine andere Welt, zumindest kam es mir so vor. Er saà ganz still und unbeweglich da, während mein Herz wie blöd zu klopfen begann.
Die Stewardessen räumten die restlichen Plastikbecher zusammen und der Kapitän kündigte die Landung an. Obwohl ich mich plötzlich hundeelend fühlte, zwang ich mich, weiter aus dem Fenster zu schauen. Guernsey sah aus wie ein schillernder Diamant, der in eine bizarre Fassung aus Felsküsten und Sandbuchten eingelassen war. Das Meer rundherum war tiefblau und von unzähligen braunen und grünen Tupfen durchsetzt, so als ob der liebe Gott einfach eine Handvoll Erde hineingeworfen hätte.
Die Landeklappen surrten und meine Oberschenkel brannten wie Hölle. Einige Minuten lang dachte ich wirklich, dass ich sterben müsste. Dann setzte das Fahrwerk auf und einzelne helle Gebäude und unendlich viel Grün sausten an mir vorbei.
Als ich sie unter all den Wartenden hinter der Absperrung entdeckte, machte mein Herz einen Hüpfer. In den vergangenen zehn oder zwölf Jahren hatte Tante Grace sich kein Stück verändert. Ganz egal, wo auf der Welt und unter welchen Umständen sie mir über den Weg gelaufen wäre, ich hätte sie todsicher auf der Stelle wiedererkannt.
Ihre wachen braunen Augen unter den dunklen, wie Mondsicheln gebogenen Brauen hielten erwartungsvoll Ausschau nach mir. Ich winkte, während ich auf sie zulief. Sie stutzte, sah mich abschätzend an, schüttelte den Kopf und schaute wieder woandershin, schien allerdings niemanden zu finden, der besser zu ihrer Vorstellung von mir passte als ich. SchlieÃlich kam sie mir zögernd entgegen. »Elodie, bist du das?«
»Hallo, Tante Grace«, sagte ich grinsend.
»Himmel noch mal!« Sie schlug theatralisch die Hände über ihren nachlässig von einem violetten Tuch gehaltenen grauen Locken zusammen. »Ich fresse eine ganze Dose marinierte Küchenschaben! «
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, sagte ich.
»Du hast recht, ich hätte es mir denken können.« Lachend warf sie die Arme auseinander und im nächsten Moment hielt sie mich bereits umfangen, drückte mich an sich und küsste mich auf beide Wangen.
»Was?«, rief ich, ebenfalls lachend. »Was hättest du dir denken können?«
»Na, dass du ziemlich gewachsen bist«, erwiderte sie, trat einen Schritt zurück und musterte mich vom Scheitel bis zu den Schuhspitzen, »⦠und zudem wunderhübsch geworden bist.«
Ich versuchte, mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. »Hat Mam dir denn kein Foto geschickt?«
»Rafaela?« Tante Grace nahm mir den Rollkoffer und die Reisetasche ab. »Wo denkst du hin! Deine Mutter lebt im Hier und Jetzt. Sie hat nie Fotos gemacht.«
»Das stimmt nicht«, widersprach ich entschieden.
Tante Grace legte den Kopf schief, sodass eines ihrer groÃen silbernen Ohrgehänge ihre Schulter berührte. »Besonders viele können es aber nicht gewesen sein.«
Wahrscheinlich hatte sie recht. Wenn in unserer kleinen Familie überhaupt mal jemand fotografiert hatte, dann war das mein Vater gewesen. Ein paar Bilder aus meiner Kinderzeit hatte Mam für mich in eine Kladde geklebt und drei oder vier weitere hingen unter bunten Blumenmagneten an der Kühlschranktür. Offenbar war ich die Einzige von uns dreien, die eine Vergangenheit hatte.
»Was ist?«, erkundigte sich Tante Grace. »Hab ich etwas Falsches gesagt? WeiÃt du, ich bin vielleicht manchmal
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