Herz und Fuß
angesehen hatte. Es gab nur ein Kinderfoto von ihr im Rock und auf diesem Bild weinte die ungefähr Sechsjährige so bitterlich, dass es einem auch heute noch das Herz umdrehte. Warum auch nicht, argumentierte sie, wenn mal wieder irgendwer sie auf ihre sichtbare sexuelle Orientierung ansprach, wäre ich schwarz, würde man das ja auch immer sehen. Sie war genau die Art sanfte Herzensbrecherin, mit kurzem Haar und festen Muskeln, die es Heterofrauen schwer machte, bei ihren festen Vorsätzen zu bleiben. Und Lesben in ihren festen Beziehungen. Wir teilten viele Interessen und Ansichten, nur was die Liebe anging, gehörten wir zwei grundsätzlich unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften an. Für sie waren amouröse Gefühle so etwas wie die Jahreszeiten Frühling und Sommer. Aufregend, belebend und warm, solange sie dauerten. Wenn es in ihren Beziehungen auf den Herbst zuging oder plötzlich Winter einsetzte, nahm sie das mit kurzer Wehmut und der Gewissheit hin, dass sich die Erde ja weiterdrehte und der nächste Jahreszeitenwechsel quasi schon vor der Tür stand. Ich dagegen hielt die Liebe für so etwas wie eine totale Sonnenfinsternis. Ein Naturphänomen, äußerst selten, mächtig, ein wenig unheimlich und gesundheitsgefährdend, wenn man es schutzlos erleben wollte. Da wir beide nicht zum Missionieren neigten, konnten wir unsere unterschiedlichen Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander ausleben. Das heißt, Baby lebte ihre Richtung aus und ich philosophierte unter dem Einfluss alkoholischer Getränke über meine.
Baby nahm sich zusammen und fragte: »Und da stand dann einfach so dieser Fuß auf eurem Dach?«
»In einem grünen Strumpf, mit einer roten Rose. Das mit der Rose ist nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Sie wollen möglichen Trittbrettfahrern keine Hinweise geben.« Ich sah die dunkle Blüte im kargen Licht der Dämmerung die Farbe wechseln. Wie konnte derselbe Mensch, der einem Toten kaltblütig den Fuß abhackte, eine so wundervolle Rose aussuchen?
»Im Fuß befinden sich ein Viertel aller Knochen des menschlichen Körpers.« Baby zog einen langen Käsefaden mit einem Stück Pizza Richtung Mund.
Ich schüttelte den Kopf, wieder einmal überrascht von den Wissensfetzen, die sie aufsammelte und großzügig weitergab, wollte aber das Thema menschliche Knochen nicht unbedingt vertiefen. »Und was gibt es über Rosen zu wissen?«
Baby legte ihren Zeigefinger um den Käsefaden, als wollte sie einen Bogen spannen, und zog ihn nach hinten. Der Käsefaden ließ sich willig dehnen, dachte aber gar nicht daran zu reißen. Schließlich gab Baby nach und riss ihn mit beiden Händen in der Mitte auseinander. Anschließend wickelte sie sich den Käse um den Finger und schob ihn sich genüsslich in den Mund. »Lesbian Fun Fact: Sappho war die Erste, die die Rose die Königin der Blumen genannt hat.« Sie überlegte. »Und für die Germanen war sie die Blume des Todes, die auf Opferstätten und Gräber gepflanzt wurde. Beides sehr interessant. Liebe und Tod. Liebe oder Tod? Da macht sich jemand Gedanken über die großen Fragen im Leben. Entweder das oder die Rose war ein Geschenk. Eine germanische Gabe für den Toten? Eine sapphische Aufmerksamkeit für dich? Der Hilfeschrei einer gestressten Botin von Fleurop? Ja, das könnte es sein. Ich sehe sie vor mir. Jahrelang bringt sie diese prachtvollen Sträuße zu diesen glücklichen Menschen und keiner sieht die einsame Frau hinter den arrangierten Astern oder den gebündelten Geranien. Und in ihrem Kopf wächst ein Plan heran, ein düsterer, schrecklicher Plan. Das gibt dem Begriff ›blühende Fantasie‹ eine ganz neue Bedeutung.« Sie verstummte nachdenklich und wickelte wieder mit großer Konzentration Käse um ihren Finger, als wollte sie eine ebenmäßige Spindel füllen, um sich danach die Wolle für einen Käsepullover zu spinnen. Mir gefiel keine der angebotenen Alternativen. Egal ob germanisch, griechisch, oder floristisch, das Ganze war zu krank für meinen Geschmack. Ich verstand allerdings auch den literarisch verbreiteten Wunsch, gestörten Mördern in die Tiefen ihres Wahnsinns zu folgen, im Gegensatz zu Baby selten.
Wir aßen eine lange Weile schweigend weiter. Mir erschien die Pizza, die ich sonst ohne Schwierigkeiten verspeiste, heute riesig groß. Ich schnitt sie ohne jeglichen Appetit in immer kleinere Stücke und schob diese auf dem Pizzakarton hin und her wie in Tomatensoße getauchte Bauern und Läufer auf
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