Herz und Fuß
Katastrophentouristen heimlich »die fotogenen Fußgänger« und schickten sie in Gruppen je nach Auslastung des Daches mal auf die eine, mal auf die andere Plattform. Dort fotografierten sie sich allein oder in Gruppen neben dem mutmaßlichen Fundort, als ständen sie neben dem Taj Mahal oder Heino. Wir waren auch kurz versucht, den Fund des Fußes allabendlich gegen einen kleinen Zusatzbetrag mit Laiendarstellern nachzuspielen, aber wenn man es genau überlegte, gab es in dem Stück nicht wirklich viele Sprechrollen und so blieb der dialogarme Einakter unaufgeführt.
Angeheizt wurde das morbide Ausflugsverhalten der Massen von den Medien, die nicht einfach kampflos zurück ins Sommerloch fallen wollten. Jeden Menschen, der in dieser ersten Woche länger als zwei Minuten vermisst wurde, wähnten die Zeitungen, Internetportale und TV-Sender zerhackt und bestrickt im Ruhrgebiet verstreut. Die wundersame Wiederkehr der Verlorenen, die meist nur an der Tankstelle gewesen waren, feierten dann alle in abendlichen Talkshows gemeinsam. Es wurde viel geweint.
Ein weiteres Problem waren unzählige Witzbolde mit alten Schuhen. Schon zwei Tage nach meinem Fund tauchte der erste Schuh mit übergestreiftem Socken auf einem der stillgelegten Hochöfen in der Nähe auf und sorgte dafür, dass eine ältere Dame aus dem Schwabenland ihren Rundgang dort in einer nahen Herzklinik beendete. Dann traf es die Zeche Zollverein in Essen (vier bestrickte Schuhe und der beschuhte Fuß einer Schaufensterpuppe an einem Tag), die Halde in Bottrop (zwei Schuhe in drei Tagen) und auch wir durften die Polizei am Donnerstag über einen neuen Fund informieren. Denn, auch wenn es meist schnell klar war, dass die neuen Funde mit hoher Wahrscheinlichkeit von humorgestörten Trittbrettfahrern stammten, gab es die Anweisung, die Behörden sofort zu verständigen. Wieder stand ich also mit Helmut neben einem bestrickten Objekt, dem man allerdings meiner Meinung nach deutlich ansehen konnte, dass es nur ein alter Schuh war. Wir hatten die verstörte Aufsicht, die den Fund bei einem Routinerundgang hinter dem Gasometer entdeckt hatte, beruhigt und den Fundort abgesperrt. Die beiden Beamten, die uns auf die Gasometerrückseite begleitet hatten, begutachteten den Herrenschuh aus Wildleder, der im Socken steckte, packten die Fundsache ordentlich ein und trugen sie davon. Als sie in ihr Auto stiegen, sah ich die Fotografen, die neben ihnen parkten. Morgen würde es einen neuen Artikel über mögliche Leichenteile geben und wir würden noch mehr Besucher bekommen.
ErzEngel hielt mich regelmäßig über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden und man konnte deutlich sehen, dass es sehr wenig wirklich neue Erkenntnisse gab. Die Fasern des dicken Strumpfes gaben genauso wenig über ihren Besitzer preis, wie der rechte Fuß über seinen. Es gab keine seltenen Fliegen, die sich verpuppt hatten, oder Maden, die blind nach Norden gewandert waren. Der fußlose Tote blieb ein Phantom. Niemand meldete seinen Opa, Onkel, Nachbarn oder Skatpartner vermisst. Da sich die Dauer des Tiefkühlens relativ genau bestimmen ließ, spielte eine gedachte Skatrunde allerdings auch schon ein ganzes Jahr zu zweit und Opa oder Onkel hatten jedes Familienfest der letzten 365 Tage verpasst. Die Suche nach dem Toten ohne Fuß würde sich nicht einfach gestalten, das war der Polizei mittlerweile klar. Wer ein ganzes Jahr in einer Tiefkühltruhe verbringen konnte, ohne vermisst zu werden, hatte nicht übertrieben viele soziale Kontakte gepflegt.
Genau zwei Wochen nach meinem Fund klingelte mein Handy und ich sah eine fremde Nummer, also ließ ich es klingeln. In Ermangelung einer globalen Katastrophe, einer Prominentenscheidung oder eines Drachens im Badesee waren die Medien immer noch erstaunlich stark auf den toten Fuß und seine lebendige Finderin angewiesen. Immer wieder versuchten Redaktionen, mich zu Sendungen einzuladen, deren Namen klangen, als müsste ich dort eine kugelsichere Weste tragen. Und wenn ich nicht bei »Explosiv« oder »Brisant« den Fund nachstellen sollte, schlug man mir vor, in Talkshows mit »ausgesuchten« Experten darüber zu reden. Ich ließ mir einmal die Liste der anderen Teilnehmer mailen. Einer der Experten hatte einen Schuhfetisch, der andere konnte schlüssig beweisen, dass mein Fund die Tat eines Außerirdischen war. Es war zudem erstaunlich, wie viele alte Bekannte, ehemalige Nachbarn und Schulkameraden plötzlich das Bedürfnis
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