Herzbesetzer (German Edition)
wir beide uns nie streiten.« Da hat er recht. Man kann mit Anoki eigentlich gar nicht streiten, weil er dafür nie lange genug beleidigt, aufsässig, rechthaberisch oder unverschämt ist. Sicher blitzt alles davon immer wieder mal in seinem Verhalten auf, aber dann genügen ein paar scharfe Worte oder ein alberner Witz, um ihn zur Vernunft zu bringen. Für einen Streit ist er zu passiv. Er gibt lieber nach und setzt seinen Kopf dann auf andere Weise durch: indem er mich mit seinem Charme umgarnt oder das, was er tun wollte, heimlich durchzieht.
»Ja, stimmt«, sage ich. »Das ist angenehm.«
»Deine Eltern streiten sich voll oft«, fügt Anoki hinzu, und ich ahne, dass er eigentlich darüber reden wollte.
»Wirklich?«, frage ich alarmiert. »Über was denn?«
Er hebt die Schultern und guckt weg. »Keine Ahnung«, lügt er offensichtlich.
»Über dich?«, bohre ich nach. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und dreht das Gesicht wieder zur Seite.
»Manchmal«, erwidert er knapp. Ich bin geschockt und gebe mir Mühe, ihn das nicht spüren zu lassen. Sie streiten sich über Anoki? Das ist kein gutes Zeichen. Früher haben sie sich kaum gestritten, weil mein Vater eher zur Nachgiebigkeit neigt, und außerdem: was muss Anoki sich dabei denken? Was für ein Gefühl muss das sein, von einer Familie aufgenommen zu werden und dann zu ihrem Lieblingsstreitthema zu werden? Besorgt kaue ich auf meiner Unterlippe herum.
36
Anoki hat dank seiner ausgeprägten kriminellen Energie entdeckt, dass man sich im Internet unzählige Musikdateien gratis und illegal herunterladen kann. Auf seinem neuen Megahandy kann er sie speichern und abspielen, und wie das geht, muss ihm niemand erklären – das scheint so eine Art okkultes Teeniewissen zu sein, selbst wenn man noch nie zuvor einen Computer berührt hat. Mit wachsender Euphorie durchforstet er die verbotenen Sites nach seinen Lieblingsbands und saugt MP3s, was die DSL-Leitungen hergeben. Ich bin entschieden weniger begeistert als er.
»Wenn du mir irgendwelche Viren auf meinen PC holst, steck ich deinen Kopf ins Klo«, warne ich ihn.
Er wendet für einen kurzen, aber zauberhaften Blick die Augen vom Bildschirm und sagt: »Na ja, wenn ich ’n eigenen PC hätte, wär das natürlich besser.«
Ich muss lachen; er bekommt zwanzig Euro Taschengeld im Monat. »Okay, dann fang mal an zu sparen!«
Diesmal dauert sein Blick in meine Augen etwas länger. »Ich kann’s mir ja verdienen«, schlägt er vor.
Wenn ich dieses Angebot richtig deute, habe ich jetzt nur zwei Optionen: auf der Stelle wegzurennen und nie mehr wiederzukommen oder ihm eine monströse Ohrfeige zu verpassen. Leider bin ich regelrecht gelähmt und tue nichts dergleichen, sondern starre ihn nur stumm an, während sich hinter meiner Stirn (und nicht nur dort) Unsägliches abspielt. Anoki lacht glucksend und wendet sich wieder seinem gesetzwidrigen Tun zu, und ich krame in der Jackentasche nach meinen Tabletten.
Als ich mir in der Küche ein Glas Wasser einschenke, um die Kapsel damit runterzuspülen, steht Anoki plötzlich hinter mir und legt die Arme um mich. Ich mache eine hastige Abwehrbewegung, durch die er gegen den Hochschrank prallt und das Glas zu Boden fällt, wo es auf dem Fliesenboden zerspringt und die ganze Küche mit einem feuchten Scherbenregen überzieht. Geschockt stehe ich da und starre auf das Desaster. Anoki hat bereits ein paar Lagen Küchenpapier angefeuchtet und nimmt damit geschickt die kleinen Splitter auf. Ich überwinde meine Lähmung und entsorge die größeren Scherben.
»Ich hab dich wohl erschreckt«, zieht Anoki mich auf, »hast du ’n schlechtes Gewissen?«
»Quatsch, ich hab dich bloß nicht kommen hören«, erwidere ich. »Pass auf, schneid dich nicht!«
Er grinst, greift nach einer scharfkantigen Glasscherbe und tut so, als wolle er sich damit die Pulsadern aufschneiden. »Meinst du so?«
»Das ist nicht witzig! Hör auf!«, schimpfe ich.
»Was sind das eigentlich für Pillen, die du da immer schluckst? Sind das Downers?«, will er wissen.
»Ja. Ich bin manchmal ein bisschen nervös oder so«, sage ich und füge hinzu: »Komm bloß nie auf die Idee, welche davon zu nehmen! Die sind verschreibungspflichtig und haben vierhundertsiebenundzwanzig unerwünschte Nebenwirkungen!«
»Hab ich schon gemacht«, sagt Anoki lässig. »Hab aber nicht viel gemerkt.«
Ich raste ein bisschen aus und brülle rum, bis er sagt: »Mann, jetzt komm mal wieder runter, Alter! Ich leb ja
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