Herzbesetzer (German Edition)
Jungs, die haben uns alles abgenommen.«
»Du meinst, sie haben die Jüngeren abgezogen? So was in der Art?« Anoki zuckt die Achseln und deutet zugleich ein Nicken an. Ich lehne mich nachdenklich auf meinem Stuhl zurück und bewundere einmal mehr seine Zähigkeit. Er hat das einfach hingenommen, ohne seinen Lebensmut zu verlieren, genau wie er das Verschwinden seiner Eltern hingenommen hat oder seinen Ärger in der Schule. Und trotzdem ist er kein feiger Loser. Er ist so was wie Wasser: man kann es nicht schlagen, stechen oder brennen, man kann es nicht festhalten, es lässt sich nicht formen, es leistet keinen Widerstand, und am Ende triumphiert es doch. So gesehen könnte man von Anoki was lernen.
Als ich mich einmal besonders schlapp fühle und nicht fähig bin, etwas mit Anoki zu unternehmen, schlage ich ihm vor, ein Buch zu lesen. Ich glaube, er wäre weniger entsetzt, wenn ich ihn um einen Blowjob gebeten hätte.
»’n Buch?«, sagt er, und es klingt wie »Igitt!«. »Das ist doch nicht dein Ernst!«
Ich drücke ihm den ersten Teil der Wraeththu-Chroniken in die Hand, , also weder totalen Schund noch anspruchsvollste Klassik. Widerwillig und mit spitzen Fingern blättert er darin herum.
»Das ist voll klein geschrieben«, jammert er, »da krieg ich Kopfschmerzen! Kann ich nicht ’n bisschen fernsehen?«
Ich bleibe erbarmungslos, und mit einem gequälten Seufzer der Entsagung schlägt er die erste Seite auf. Interessanterweise höre ich danach sehr, sehr lange keinen Ton mehr von ihm, und ich werde mich hüten, ihn zu stören. Ich mache ein paar Fotos von ihm, wie er da auf der Couch sitzt, die Beine hochgelegt, das Buch in der Hand und seinen Panther unter den Arm geklemmt. Danach lege ich mich aufs Bett und schlafe über eine Stunde. Als ich wach werde, liest er immer noch. Ich beobachte ihn einige Minuten lang, bis er den Kopf hebt und meinen Blick erwidert. Er taucht aus großen Tiefen auf, dann lächelt er, und ich lächle zurück.
»Voll spannend«, erklärt er mir, »hast du das auch gelesen?«
Wie geplant reiche ich Anoki in meinem Freundeskreis herum. Nicht alle teilen meine heimliche Begeisterung. Olaf sucht verzweifelt nach Themen, über die er mit diesem Küken reden kann, und Silvio versucht nicht einmal, Anoki als vollwertigen Menschen zu betrachten. Dafür mutiert seine Freundin Annalisa auf der Stelle zur Leihmutter und überschüttet meinen kleinen Bruder mit Aufmerksamkeit und Zuneigung. Tom behandelt Anoki einfach ganz normal, was sehr wohltuend ist. Er lässt weder den überlegenen Erwachsenen raushängen, noch begibt er sich auf ein peinliches Teenie-Niveau. Und weil Anoki nicht lockergelassen hat, stelle ich ihn schließlich auch Janine vor, obwohl ich kein gutes Gefühl dabei habe. Die beiden hassen sich von der ersten Sekunde an. Ich sehe mir das eine Zeit lang an, bis mir klarwird, dass es rasendste Eifersucht auf beiden Seiten ist, die eine Annäherung unmöglich macht, und auch wenn mir das ein wenig schmeichelt, ist es doch ziemlich stressig, das Epizentrum eines Terrorschauplatzes zu sein. Ausgerechnet Janine, die – genau das schätze ich ja so an ihr – nie Besitzansprüche geltend gemacht und immer auf ihre Freiheit gepocht hat, führt sich jetzt auf wie eine Zicke. Und Anoki, der doch nichts weiter als das Pflegekind meiner Eltern ist, fährt die Krallen eines Grizzlys aus, wenn sie mir zu nahe kommt. Sind die eigentlich alle beide verrückt geworden?
Unter dem Vorwand von plötzlich stark erhöhtem Fieber breche ich den gemeinsamen Abend beim Chinesen vorzeitig ab und fahre mit Anoki nach Hause. Für ihn natürlich ein Sieg nach Punkten, wie er Janine beim Abschied durch seine Mimik auch deutlich zu verstehen gibt. Wenigstens hält er sich mit dummen Sprüchen über sie sehr zurück, als wir wieder alleine sind. Nur ein einziger Satz kommt über seine Lippen: »Ich glaub, ich weiß jetzt, warum du die nur zum Ficken benutzt.«
35
Ich habe einen gewaltigen taktischen Fehler gemacht, als ich Anoki erlaubt habe, an meinen PC zu gehen. Nach eigener Aussage hat er bisher lediglich an der Schule ein paar Grundbegriffe gelernt und ansonsten noch nie etwas mit Computern zu tun gehabt, und ich hatte angenommen, er würde nur ein paar hilflose Gehversuche unternehmen und vielleicht mal probieren, ein paar Zeilen in Word zu schreiben oder so was. Stattdessen surft er jetzt seit anderthalb Stunden unverdrossen durchs Internet, und zwar mit der Geschicklichkeit eines
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