Herzbesetzer (German Edition)
ausgekochten Hackers. Das gibt mir zwar die Gelegenheit, mit der Zeitung auf dem Sofa herumzugammeln und neue Kraft zu schöpfen, aber es beunruhigt mich trotzdem. Nervös werfe ich immer wieder einen Blick auf den Bildschirm, um zu sehen, womit er sich da beschäftigt. Ich traue ihm alles zu, vom Runterladen infizierter Dateien bis hin zum Manipulieren von Bankkonten. Momentan scheint er vor allem auf Band-Websites unterwegs zu sein. Ab und zu erzittern meine Aktivboxen unter dem brutalen Dröhnen von Numetalpostpunk oder was auch immer.
»Nichts runterladen«, warne ich Anoki. »Das ist alles verseucht mit Viren!«
»Jaja«, sagt er, und wir alle wissen, was das bedeutet. Unbehaglich wende ich mich wieder der Zeitung zu. Als ich das nächste Mal hinschaue, guckt er sich ein eindeutig pornografisches Video an, in dem eine ekstatisch beglückt wirkende Frau auf allen vieren gerade zwei Männer gleichzeitig bedient – an jedem Ende einen. Die Boxen hat er ausgeschaltet, damit das Gestöhne nicht meine Aufmerksamkeit erweckt. Ich sehe ein paar Minuten interessiert über seine Schulter hinweg zu, ohne dass Anoki es bemerkt, dann wird mir die überaus künstliche und unprofessionelle Szene langweilig, und ich brülle, als hätte ich es gerade erst entdeckt: »Was guckst du dir da an? Mach das sofort weg!«
Vor Schreck fällt Anoki fast vom Stuhl. »Das war plötzlich da«, behauptet er ängstlich, »ich weiß gar nicht, wie ich da hingekommen bin.«
Ja, klar. Das ist bestimmt der neuste Clip seiner Lieblingsband.
»Mann, bist du dämlich«, sage ich verächtlich, »ich hoffe bloß, die Seite ist nicht kostenpflichtig. Und außerdem – die Frau trägt ’ne Perücke, und der behaarte Kerl sieht aus wie ein Gorilla.«
Anokis Mundwinkel biegen sich zu einem kleinen Lächeln nach oben. Er schließt die Website und ruft irgendwas Unverfängliches über Skaterwettbewerbe auf.
Als wir etwas später in meinem Auto sitzen, um zum Olympiastadion zu fahren, sagt Anoki: »Du meinst also, das war kein guter Porno?«
Ich muss erst mal überlegen, was er meint. »Ach so, das«, sage ich dann. »Nee. Der war wirklich Schrott. Hast du nicht gesehen, was das für Laiendarsteller waren? Und wie gekünstelt die ganze Szene wirkte?«
Er zuckt die Achseln. »Die aus deiner Sammlung sind wohl besser, oder?«, fragt er. Ich hab so eine dumpfe Ahnung, worauf er hinauswill, aber mein persönlicher Stolz lässt mich trotzdem antworten: »Natürlich. Die sind handverlesen.«
Und tatsächlich rückt Anoki jetzt raus mit der Sprache: »Dann können wir uns die doch mal angucken.«
»Wer wir? Du und ich? Zusammen?«, schreie ich panisch.
Anoki lacht unbekümmert. »Ja sicher, wer denn sonst?«
Ich übersehe beinahe eine rote Ampel und komme erst in letzter Sekunde mit einem schrillen Quietschen meiner Bremsen zum Stehen. Das fehlte mir gerade noch, dass Anoki und ich Seite an Seite auf der Couch sitzen, uns ein Sixpack Bier teilen und Pornos anschauen! Schon der Gedanke löst in mir absolut unangemessene Reaktionen aus. Ich rutsche verzweifelt auf dem Fahrersitz hin und her. »Du hast doch gesagt, du denkst dir lieber selbst was aus«, argumentiere ich schließlich.
»Ja, schon«, sagt Anoki nachdenklich. »Aber … bevor man sich was ausdenken kann, muss man ja erst mal so … ’n Überblick haben, weißt du? Was alles geht, sozusagen.«
Was alles geht! Wozu muss er in diesem Alter wissen, was alles geht? »Sobald du eine Freundin hast, kannst du das ja ausprobieren«, sage ich und hoffe, meiner Stimme die nötige Festigkeit unterlegt zu haben.
Meine Eltern erkundigen sich regelmäßig telefonisch nach Anoki. Meine Mutter ruft ihn meist auf seinem neuen Handy an, während mein Vater eher mit mir sprechen will. Er scheint die Scheu gegenüber seinem Pflegesohn immer noch nicht recht überwunden zu haben. Außerdem fällt mir auf, dass meine Mutter, deren Fürsorge sich während der letzten Jahre zunehmend auf ihren Mann konzentriert hatte, in letzter Zeit beinahe ein bisschen gleichgültig über ihn spricht. Ich bin mir nicht sicher, es sind mehr so latente Schwingungen. Könnte es sein, dass sie ihm sein distanziertes Verhalten übelnimmt? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Das würde ja bedeuten, dass Anoki ihr wichtiger ist als der Mann, mit dem sie im letzten Mai die Silberhochzeit gefeiert hat!
Meine Grübeleien erhalten weitere Nahrung, als Anoki eines Abends zu mir sagt: »Weißt du, was ich total fett finde? Dass
Weitere Kostenlose Bücher