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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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wälzt sich hin und her, und ich rutsche nach rund dreißig Minuten immer weiter zur Mitte, wo wir uns schließlich begegnen. Todesmutig nehme ich ihn in den Arm und zwinge mich dabei, keinen anderen Gedanken zuzulassen als das Mantra »Er ist mein Bruder, er ist erst vierzehn, er ist mein Bruder …«.
    Anoki klammert sich hungrig an mich und gibt sich eine Weile dem Schmerz der bevorstehenden Trennung hin. Dann wendet er mir den Rücken zu, und ich drehe mich ebenfalls auf die linke Seite, passe meine Körperhaltung genau der seinen an, so dass wir wie zwei Löffel in der Besteckschublade daliegen, und lege den Arm um seine Taille, wobei ich sorgfältig vermeide, ihn auch nur einen Millimeter zu tief wandern zu lassen. Das einzige kleine Extra, das ich mir gönne, ist, ihm meine Nase durch seine Filzsträhnen hindurch in den Nacken zu bohren. Ich tue mir damit keinen Gefallen, das möchte ich klarstellen. Ich habe mich schon lange nicht mehr dermaßen gequält. Anoki dagegen entspannt sich und atmet immer gleichmäßiger.
    »Du wirst mir schrecklich fehlen«, flüstere ich in sein Ohr. Er gibt keine Antwort, weil er bereits eingeschlafen ist. Ich weiß trotzdem, wie sie lauten würde.   
    Meine Eltern haben noch keinen Internetanschluss, also vergleiche ich am Montag in der Mittagspause die Preise der verschiedenen Anbieter und vergebe dann den Auftrag. Ich lasse die Anschlussgebühr und die monatlichen Raten von meinem Konto abbuchen. Zwei Wochen später geht Anoki online, und von nun an kann ich mich täglich über mindestens eine E-Mail freuen. Seine Rechtschreibung ist katastrophal bis unidentifizierbar, seine Schilderungen sind mehr als bizarr, und außerdem fügt er jeder Mail die abgefahrensten Animationen, Bilder und Sounddateien hinzu – aber sobald sein Name in meinem Posteingang erscheint, macht mein Herz einen kleinen Hopser. Ich habe ihm eine neue Tastatur gekauft – eine schwarze mit aufgedruckten Knochenhänden –, weil ich gelesen habe, dass Tastaturen mehr Keime aufweisen als Kneipenklos und ich nicht will, dass Miezi sich an meinen Bazillen den Katzenschnupfen holt. Nun wäre noch ein Flachbildschirm erforderlich, denn Anoki hat kaum Platz auf seinem Schreibtisch, aber um ehrlich zu sein: ich bin vollkommen blank. 
    Trotzdem ärgert es mich, dass meine Mutter mir sagt, ich solle Anoki nicht so sehr verwöhnen. Wäre das nicht eigentlich ihre Aufgabe? Von meinen Eltern hat Anoki bisher außer dem Skateboard und ein paar Anziehsachen nicht gerade viel bekommen. Klar, er lebt in ihrem Haushalt, er muss essen und trinken, er verbraucht Strom und Wasser, für die Schule benötigt er ab und zu mal Materialien, und sie unternehmen ein paar Dinge mit ihm. Aber sie müssten doch selbst sehen, wie bedürftig er ist, besonders wenn er mit seinen Klassenkameraden gleichziehen will – die haben nicht in autonomen Kommunen und Kinderheimen gelebt, sondern konnten sich zeit ihres Lebens dem Kommerz hingeben, und deshalb haben sie jetzt alles, was Anoki fehlt: Playstations, MP3-Player, Stereoanlagen, Fahrräder und was weiß ich. Ich bin bestimmt kein Verfechter des sinnlosen Überfütterns von Kindern mit Konsumgütern, aber in diesem speziellen Fall sehe ich es ein bisschen anders, weil Anoki so viel nachzuholen hat und weil es für ihn auch so schon schwer genug ist, in seiner Altersgruppe akzeptiert zu werden.
    Er bleibt ein Einzelgänger, obwohl es mir gelingt, ihn zur Teilnahme an einem Karatetraining zu überreden. Das macht ihm Spaß, weil er enorm beweglich und geschickt ist und sich da ein bisschen austoben kann, aber Freunde findet er trotzdem nicht. Anoki erzählt mir davon – am Telefon oder per Mail – mit derselben passiven Geduld wie von allem anderen. Falls er traurig oder enttäuscht ist, lässt er sich nicht viel davon anmerken. Er lacht oft und gern und nimmt Tiefschläge mit träger Beharrlichkeit hin. Ich frage mich manchmal, wie es ihm ginge, wenn er mich nicht hätte, dem er alles erzählen kann und von dem er abwechselnd Ratschläge, Aufmunterung und Anschisse, in jedem Fall aber sehr viel Anteilnahme bekommt. Na ja, wahrscheinlich würde er auch das mit heiterer Duldsamkeit ertragen.
    Meine Mutter macht in letzter Zeit einen etwas genervten Eindruck. Oft beklagt sie sich über meinen Vater, der ihr zu nachgiebig und konturlos ist.
    »Aber so war er doch immer schon!«, sage ich verwundert.
    »O nein«, widerspricht sie, »da kannst du dir überhaupt kein Urteil erlauben!« Über

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