Herzbesetzer (German Edition)
noch!«
Ich fasse den Entschluss, meine Tabletten kindersicher wegzusperren und immer nur eine oder zwei in der Jackentasche aufzubewahren.
Die Beruhigungstabletten nehme ich – wenig überraschend, ich weiß – seit dem Unfall. Davor war ich ein ziemlich ausgeglichener Mensch, aber so drei bis vier Monate nach Benjamins Tod nahmen meine Wutausbrüche und meine Neigung, mich über Kleinigkeiten unmäßig aufzuregen, dermaßen überhand, dass meine Eltern mich nötigten, eine Psychologin aufzusuchen. Ich bin da nicht lange hingegangen, weil ich bald erkannt hatte, dass sie noch um einiges durchgeknallter war als ich, aber sie war es, die mir erstmals diese Tabletten empfahl. Später hab ich dann einfach meinen Hausarzt um entsprechende Rezepte gebeten. Aber ich nehme diese Dinger nicht wie Bonbons. Immer nur wenn ich wirklich das Gefühl habe, es nicht mehr allein zu schaffen, also im Schnitt so zwei Mal täglich. Oder auch drei, vier, fünf Mal, wenn Anoki bei mir ist.
Natürlich ist das Thema »eigener PC« für Anoki noch lange nicht erledigt. Er versteht es geschickt, immer wieder dezent darauf hinzuweisen, ganz beiläufig, nicht etwa quengelig und dreist, sondern zurückhaltend, aber kontinuierlich wie ein chinesischer Tropfen. Also, na ja: Es ist schon so, dass ich seit einiger Zeit darüber nachdenke, mir einen Laptop zu kaufen, weil ich ja jetzt jedes Wochenende in Neuruppin bin und dort gerne auch mal meine Bilder bearbeiten oder sonstige Arbeiten erledigen würde, die seit Jahresbeginn liegengeblieben sind. Aber meine Finanzlage ließ das bisher nicht ratsam erscheinen. Jetzt macht sich der Gedanke in meinen Hirnwindungen breit, dass Anoki ja dann meinen jetzigen PC haben könnte. Der ist noch keine zwei Jahre alt und dürfte seinen zweifellos erheblichen Ansprüchen genügen. Soviel ich weiß, brauchen Jungs in dem Alter PCs in erster Linie zur exzessiven Anwendung von Egoshootern und so weiter, und dazu ist eine Menge Arbeitsspeicher erforderlich, aber das sollte mit meiner Kiste kein Problem sein.
Ich weihe Anoki nicht in meine Überlegungen ein, und zwar aus zwei Gründen: erstens gönne ich ihm nicht schon wieder den Triumph, mich zum Werkzeug seines Willens gemacht zu haben, und zweitens will ich mir ein Hintertürchen offenlassen, falls ich es mir doch anders überlege. Aber wahrscheinlich ahnt er was, denn er ist wirklich bezaubernd zu mir und umschmeichelt mich, wie es eben nur ein Perserkätzchen kann. Also fahren wir am Samstag, seinem vorletzten Tag bei mir, zu Saturn und kaufen einen Laptop. Anoki ist voller selbstlosen Eifers bei der Sache, berät mich, als sei er ein Hardwarespezialist der ersten Stunde, und gibt durch nichts zu erkennen, dass er schon gewisse Vorstellungen vom künftigen Schicksal meines bisherigen Rechners hat. Zu Hause stellen wir das schmerzhaft teure neue Teil auf den Schreibtisch und schließen es an, und nachdem ich alle Daten meines vorherigen PCs auf eine externe Festplatte überspielt habe, trenne ich seine Kabelverbindungen. Dabei sage ich beiläufig: »Ich glaub, im Keller hab ich noch den Originalkarton. Da können wir ihn reinpacken, wenn du ihn morgen mit nach Neuruppin nimmst. Und pass mir bloß gut drauf auf, ja?«
Ich wundere mich, dass hinter mir (ich knie gerade unter der Tischplatte und ziehe den Netzstecker aus der Dose) keinerlei Reaktion erfolgt, und denke schon, Anoki ist vielleicht gar nicht mehr im Raum. Doch als ich ächzend unter dem Tisch hervorgekrochen komme, sitzt mein unwiderstehlicher kleiner Foltertropfen auf der Couch, guckt mich halb ungläubig, halb entrückt an und sagt: »Du meinst – ich darf den alten haben?« In seinen Augen glänzt es komisch. Kann das sein? Dass er sich so freut? Ich bin jetzt absolut sicher, das Richtige getan zu haben, und nicke mit einem breiten Grinsen. Anoki steht auf, kommt auf mich zu, hängt sich an meinen Hals und drückt mir die Luft ab, bis mir schwarz vor Augen wird.
37
Dies ist vorläufig die letzte Nacht, in der ich mein Bett mit der zartesten Versuchung seit Adam und Eva teilen muss. Ich sollte erleichtert sein, bin es aber nicht. Ehrlich gesagt bin ich beinahe genauso deprimiert wie Anoki, und das will was heißen. Wie immer ziehen wir uns an die entgegengesetzten Ränder meiner extrabreiten Matratze zurück, wo Anoki meist innerhalb weniger Sekunden einschläft und ich für gewöhnlich ein paar Stunden meines Lebens dem heldenhaften Widerstand widme. Heute ist es anders. Anoki
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