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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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vollständig bekleidet neben meinem Bett auf dem Boden, als habe ihn der Blitz getroffen – er wird mitten im Satz vom Schlaf niedergestreckt worden sein. Ich kämpfe mich in die Senkrechte, ziehe meinen ausgekühlten kleinen Ausreißerbruder mühsam hoch, ohne dass er aufwacht, packe ihn in mein vorgewärmtes Federbett und decke ihn ebenso liebevoll zu, wie er das gestern Abend mit mir gemacht hat. Ein paar Sekunden bleibe ich noch da sitzen, betrachte sein wunderschönes, schlafendes Gesicht und das verträumte Lächeln um seine Lippen und lasse mich von Liebe durchfluten. Diesmal ist das keine rohe Triebhaftigkeit oder verstohlene Gier, sondern so eine Art wonnevolle innere Auflösung und gleichzeitig die Vorstellung von überirdischer Kraft, mit der ich Anoki beschützen und umhüllen möchte. Ich wünschte, ich könnte ewig hier sitzen bleiben und es genießen, und gleichzeitig bin ich Anoki zutiefst dankbar dafür, dass er mich so in meinem Innersten berührt. Das ist vor ihm noch niemandem gelungen – mit Ausnahme von Benjamin, nehme ich an.
    Jedenfalls sind diese ersten Minuten des neuen Tages, ohne dass ich pathetisch werden will, so eine Art Neugeburt. Ich würde das ja gerne bodenständiger ausdrücken, aber das ist eine so tief gehende Erfahrung, dafür reicht ein normaler Alltagswortschatz nicht aus.
    Ich schleiche mich aus dem Haus, noch ehe einer seiner anderen Bewohner erwacht, und hinterlasse Anoki einen kleinen Zettel mit den Worten: »Pass besser auf dich auf, Blödmann. Ich hab dich lieb.«
    Ziemlich übernächtigt treffe ich an meinem Arbeitsplatz ein. Dort erreicht mich gegen halb neun (also während der Unterrichtszeit!) eine SMS von Anoki mit dem Inhalt »ich dichAuch doofkop« und ein paar Stunden später ein Anruf meiner Mutter. Sie hat erfahren, was diese Nacht passiert ist – und sie ist total außer sich. Ich bin so müde, dass ich sie mehr oder weniger nur reden lasse, aber als ich den Hörer auflege, muss ich erst mal den Kopf schütteln, als hätte ich einen betäubenden Schlag erhalten. Was ist denn mit der los? Sie hat gerade über Anoki geredet, als sei er von Grund auf verdorben und gewissenlos und als könne sie es kaum ertragen, länger mit ihm unter einem Dach zu leben. Aber wieso? Er hat doch (diesmal) gar nichts so Schlimmes getan, außer heimlich abzuhauen natürlich. Für die Sache mit dem Perversen kann er ja nichts.
    In den folgenden Tagen mache ich mir viele Gedanken, zum einen über meine Mutter und ihre zunehmende Gereiztheit, zum anderen über diesen Kerl, der Anoki an die Wäsche wollte. Ich bin der Meinung, dass man ihn anzeigen müsste, und versuche immer wieder, Anoki ein paar Details über ihn zu entlocken. Leider mit wenig Erfolg. Wenn ich frage, wie alt er war, liefert Anoki so verbalen Dünnschiss wie »Och, ziemlich alt – so wie du ungefähr«, und wenn ich nach seinem Aussehen frage, kann er sich an nahezu nichts erinnern. »Ey, das war doch dunkel! Ich weiß nur, dass der schwarze Haare hatte. Oder braune. Also jedenfalls keine blonden, weißt du? Und ich glaub, die waren kurz. Also, nicht so ganz kurz, eher so mittelkurz. So langweilig kurz. Du weißt schon.« An das Nummernschild kann er sich natürlich auch nicht erinnern, »ich glaub OPR. Oder B? Nee, OPR. Ja. Glaub ich«, und selbst bei der Farbe des Autos gibt es gewisse Ungereimtheiten: »Rot! Genau wie deins!« (Mein Auto ist silbermetallic.) Auf dieser Grundlage können wir nicht zur Polizei gehen.
    »Tja, dann wird er wohl bald den Nächsten abschleppen«, sage ich zu Anoki, »aber es kann natürlich auch sein, dass er sich jetzt voll auf dich eingeschossen hat. Dass er dir auflauert und dich erst vergewaltigt und dir dann aus Wut den Bauch aufschlitzt, weil du ihn verarscht hast.«
    An der anschließenden Stille in der Telefonleitung erkenne ich, dass meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt haben, und ich fange an, mich für meine Boshaftigkeit zu schämen, bis Anoki loskichert und sagt: »Hast du öfters so ’ne Fantasien? Ich kenn da ’n guten Arzt!«
    Es wäre natürlich möglich, dass er einfach nicht mehr an die Angelegenheit erinnert werden will, denn ganz so locker, wie er jetzt tut, ist er nicht. Als ich ihn an diesem Autohof aufgegabelt habe, war er ziemlich durch den Wind. Sein Herumgekasper ist wahrscheinlich seine persönliche Problembewältigungsstrategie. Na gut, dann werde ich mal den berühmten Mantel des Vergessens über seinen missglückten Ausflug nach Berlin decken.

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