Herzbesetzer (German Edition)
dann durch die Dunkelheit zurückgetastet. Die Lichter des Autohofs haben ihn angelockt, weil er immer noch Angst hatte und irgendwohin wollte, wo Menschen sind. Und von da aus hat er mich angerufen.
»Du warst ja auch ganz schön schnell da«, sagt er anerkennend. »Scheiße, ich bin so froh, dass du gekommen bist, Alter.« Diesmal rückt er freiwillig zu mir rüber und legt mir den Kopf auf die Schulter. Nach ein paar Sekunden setzt er sich wieder aufrecht hin, guckt mich ängstlich von der Seite an und fragt ganz leise: »Bist du noch sauer?« Ich seufze und antworte: »Na ja. Nee. Nicht so richtig. Du hast ja deine Strafe jetzt eigentlich bekommen.«
»Das kannst du laut sagen«, entgegnet Anoki düster und starrt in die Dunkelheit. Und schon fängt er wieder an zu lachen: »Hab ich mir doch genial ausgedacht, was?«
Für einen Moment bin ich tatsächlich irritiert. Aber ich kenne ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, wann er lügt.
Ich habe meinen Vater noch vom Autohof aus angerufen und ihm angekündigt, dass ich den verlorenen Sohn in einer halben Stunde daheim abliefern werde. Er öffnet uns die Tür im Schlafanzug. Im ersten Moment bin ich erschrocken, wie müde, alt und verbraucht er aussieht. Aber immerhin ist es mittlerweile nach zwei. Auch seine Strafpredigt lässt es ziemlich an Biss fehlen. Ich brauche nicht mal einzuschreiten und mich wie sonst schützend vor Anoki zu stellen, denn die paar lahmen Vorwürfe kann er locker alleine wegstecken, zumal er sie offenbar gerechtfertigt findet. Als er dann eine Kurzversion seiner Erlebnisse bringt, wird mein Vater weich wie Butter und ereifert sich nur noch über diesen »widerlichen Perversen«. Ich höre schweigend zu und starre auf das Teppichmuster, denn obwohl ich – ganz ehrlich! – noch nie einen Jungen in meinem Auto entführt und zum Sex gezwungen habe (und auch kein Mädchen – die haben das immer freiwillig gemacht), kommt es mir so vor, als sei ich moralisch trotzdem nicht weit von diesem Kerl entfernt.
»Und Mama hat überhaupt nichts mitgekriegt?«, frage ich im Bestreben, das Thema zu wechseln. Mein Vater bestätigt, dass sie nach wie vor schlafend in ihrem Bett liegt und er hier unten auf der Couch gelegen und die Klingel des Telefons ganz leise gestellt hat. Allerdings, fügt er hinzu, habe er sowieso nicht schlafen können, weil er sich ganz schön Sorgen gemacht habe.
»Fuck, Mann, ja, ich weiß«, sagt Anoki zerknirscht. »War tierisch Scheiße. Ich wollt ja bloß, dass Julian nicht mehr sauer ist.«
Interessiert erkundigt sich mein Vater: »Worüber habt ihr euch denn so doll gestritten?«, worauf Anoki und ich uns peinlich berührt ansehen. Ich fange mich ein bisschen schneller und sage: »Ach – ging um geliehenes Geld. War eigentlich eine Lappalie. Ich weiß auch nicht, warum ich so reagiert hab. Vielleicht bin ich ein bisschen überarbeitet.«
Anoki wirft mir einen zutiefst dankbaren Blick zu, in dem allerhand Versprechungen mitschwingen, und ich denke mir, kein Wunder, dass er jetzt schon auf offener Straße abgeschleppt wird – wenn er so guckt.
Ich gähne, recke mich ausgiebig und sage: »So, dann werd ich wohl mal nach Hause fahren«, worauf mir zweistimmiger energischer Protest entgegenschlägt. Inhaltlich tendiert der eine eher zu der Variante »viel zu gefährlich, du bist zu müde zum Autofahren« und der andere zu »du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen«, aber das Ergebnis ist dasselbe: Ich bleibe.
Anoki strahlt, als hätte er mich auf dem Rummel gewonnen. Ohne Aufforderung geht er mit in mein Zimmer, offenbar in der Absicht, jetzt noch ein paar Stündchen nett mit mir zu plaudern. Er streckt sich auf meinem Bett aus und fängt an zu plappern, während ich mich schweigend bis auf die Unterwäsche ausziehe, dann verfolgt er mich ins Bad, wo ich mir die Zähne putze und Gesicht und Hände wasche, und dann tapst er mir schwatzend hinterher in mein Zimmer. Ich krieche in mein Bett. Anoki deckt mich fürsorglich zu, bleibt auf der Bettkante sitzen und plappert und plappert. Ich glaube, ich habe seit zwanzig Minuten kein Wort mehr gesagt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er es nicht mal bemerkt. Was er so redet, weiß ich nicht genau, ich bin zu müde, um zuzuhören. Als ich einschlafe, quatscht er immer noch.
48
Ich habe die Weckfunktion an meinem Handy auf fünf Uhr gestellt, und als die ersten Takte von In the cold light of morning erklingen, muss ich mich erst mal orientieren. Anoki liegt
Weitere Kostenlose Bücher