Herzbesetzer (German Edition)
habe. Hätte ich doch … Wie konnte ich nur … Warum hab ich nicht … und so weiter. Das hilft jetzt aber auch nichts mehr. Gehen wir mal davon aus, dass er sich nicht umbringen wollte – dazu hätte er ja im Übrigen auch nicht unbedingt das Haus verlassen müssen –, wohin könnte er gegangen sein? Hat er irgendwelche Lieblingsplätze in Neuruppin? Die Skaterbahn? Das Bollwerk? Die Bank im Rosengarten, auf der er Bier trinkend die Schule schwänzt? Oder hat er sich in die stockfinstere Heide verkrochen, die nur ein paar Gehminuten vom Haus meiner Eltern entfernt beginnt und sich dann kilometerweit Richtung Norden ausdehnt, so dass man sich unrettbar darin verlaufen kann? Hat er noch andere Freunde außer Nick, bei denen er unterschlüpfen könnte?
Ich frage meinen Vater, ob sein roter Rucksack noch da ist, und er verneint es. Ich bin erleichtert. Das deutet zumindest nicht auf Selbstmordabsichten hin. Dann erkundige ich mich, was meine Mutter dazu sagt, und mein Vater erklärt mir, dass sie bereits schläft und er sie nicht mit Anokis Verschwinden konfrontieren will.
»Vielleicht kommt er ja gleich zurück«, hofft er voller Optimismus, »und sie würde sich nur schrecklich aufregen.«
»Gut«, sage ich und bemühe mich, meiner Stimme Kompetenz und Gelassenheit zu verleihen, »ich versuche jetzt, ihn übers Handy zu erreichen. Ich melde mich wieder bei dir. Und ruf mich bitte an, wenn er zurückkommt.«
Meine Anrufe bleiben erfolglos, Anoki hat sein Handy ausgeschaltet. Ich rufe mir noch mal unser Gespräch von heute Nachmittag ins Gedächtnis – hat er irgendwas angedeutet? Aber ich kann mich an nichts erinnern, außer dass er gegen Ende immer stiller wurde und ziemlich verzweifelt wirkte. Ich kämpfe gegen mein schlechtes Gewissen an. Wenn ihm jetzt irgendwas passiert, ist das auf jeden Fall meine Schuld. Meine Schuld … mein Schicksal. Ich kenne viele Fälle, in denen Menschen immer wieder dieselben Dinge passiert sind. Sogar grauenvolle, unaussprechliche Dinge, von denen man nicht annehmen würde, dass sie sich jemals wiederholen. Stattdessen scheinen sie eine regelrechte Tendenz dazu zu haben, beharrlich dieselben Opfer heimzusuchen. Zumindest wenn man, so wie ich vielleicht, darauf achtet. Am liebsten würde ich jetzt beten, aber niemand hat mir jemals so was wie Religion vermittelt. Und darüber hinaus fällt mir nichts Hilfreiches ein.
Ob Anoki auf dem Weg zu mir ist? Auch wenn ich ihn noch vor ein paar Stunden böse rundgemacht habe, bleibe ich vermutlich sein bewunderter großer Bruder. Vielleicht will er sich persönlich bei mir entschuldigen und versuchen, mich wieder gnädig zu stimmen. Mit zitternden Fingern schalte ich meinen Laptop ein und rufe die Website der Bahn auf, um nachzusehen, wann der letzte Zug von Neuruppin nach Berlin gefahren ist: zweiundzwanzig Uhr einunddreißig. Dann wäre er kurz vor Mitternacht in Spandau. Ich ziehe meine Schuhe an und renne runter zum Auto.
Von unterwegs rufe ich meinen Vater an und setze ihn über meine Pläne ins Bild, und etwas später treffe ich keuchend und schwitzend auf dem Bahnsteig ein. Es steigen nur vier oder fünf Fahrgäste aus, Anoki ist nicht darunter. Verzweifelt warte ich noch fünf Minuten, falls er sich mal wieder auf der Flucht vor der Fahrscheinkontrolle irgendwo verkrochen haben sollte, aber dann verschwindet der Zug in sein Depot oder wohin Züge sich nachts zum Schlafen so begeben. Ich kicke eine leere Bierflasche ins Gleisbett, rufe abermals meinen Vater an und schleiche entmutigt zurück zu meinem im Halteverbot abgestellten Auto. Für einige Minuten bleibe ich hinter dem Lenkrad sitzen. Soll ich nach Neuruppin fahren und Anoki suchen? Aber wo? Und wenn er doch irgendwie zu mir unterwegs ist? In meiner Verzagtheit rufe ich ein weiteres Mal meinen Vater an, aber der hat auch keine neuen Nachrichten und weiß ebenso wenig Rat.
Ich lenke mein Auto durch das nächtliche Berlin zurück nach Hause, weil mir nichts Besseres einfällt, und beschließe, von dort aus die Polizei zu alarmieren. Gerade als ich vor meiner Haustür einen Parkplatz erspäht habe und darauf zuschieße, klingelt mein Handy, und ich würge vor Schreck den Motor ab und stehe jetzt mitten auf der Fahrbahn. Der Anruf kommt von Anoki.
»Wo bist du?«, brülle ich in den Hörer. Es entsteht eine kleine Pause, in der ich so etwas wie ein Schluchzen zu hören glaube.
Dann piepst Anoki mit einem herzzerreißenden Kinderstimmchen: »Entschuldige, dass ich dich so
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