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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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beiße mir auf die Unterlippe, um die Bemerkung »Ja, und ohne jedes Verantwortungsgefühl« zu unterdrücken.
    »Und ihr hattet nie ein richtiges Zuhause?«, fragt meine Mutter mitfühlend.
    Anoki zuckt die Achseln. »Home is where the hat is«, sagt er. »Ich hab nichts vermisst.«
    »Und jetzt?«, frage ich. »Vermisst du jetzt was?«
    Er guckt mich mit einem rätselhaften Blick an und sagt: »Schon mal so’n Heim von innen gesehen?«
    Hab ich natürlich nicht. Außerdem fällt mir auf, dass er es mir gegenüber völlig an Respekt fehlen lässt. Egal was ich sage, er geht immer auf Konfrontation. Bei meinen Eltern wagt er das nicht.
    Um ihn zu ärgern, wechsle ich das Thema und frage: »Wie sind denn deine Eltern auf die Idee gekommen, dich Anoki zu nennen?«, und ich spreche seinen Namen aus wie etwas Ekliges.
    Die Provokation prallt an ihm ab. Stattdessen erklärt er: »Das ist ’n indianischer Name. Bedeutet so viel wie ›Schauspieler‹. Meine Mutter fand Indianer toll.«
    »Oh, na ja, das klassische indianische Drama ist ja auch absolute Weltklasse«, sage ich ätzend, wofür ich von meiner Mutter einen Blick wie eine Ohrfeige entgegengeschleudert kriege. Aber ist doch wahr, oder? So eine gequirlte Kacke, als ob die Indianer ein Wort für »Schauspieler« hätten!
    »Ich finde den Namen wunderschön«, sagt meine Mutter. »Er klingt so … liebevoll.« Uah, gleich kommt mir die Pizza hoch.
    Die Kinovorstellung ist ziemlich entspannend, weil es dunkel ist (ich muss Anoki nicht sehen) und weil er die Klappe hält. Einziger Minuspunkt ist, dass er kontinuierlich geräuschvoll Popcorn mampft, und zwar einen Rieseneimer, ganz alleine. Obwohl er zwischen meinen Eltern sitzt und ich natürlich ganz außen, wie in einer systemischen Familienaufstellung, stört mich das Gekaue. Ich bin allerdings auch ziemlich gereizt, muss ich zugeben. Kurz vor Ende der Vorstellung nehme ich noch mal eine Tablette, immerhin muss ich gleich noch mit dem Bürschchen über den Rummel gehen. Dort verhält er sich dann übrigens erstmals seinem Alter entsprechend. Voller Begeisterung stürzt er sich auf No Limit, Breakdance und wie die übelkeitserregenden Fahrgeschäfte alle heißen, und er ist noch nicht mal ein bisschen blass um die Nase, wenn er nach der dritten Runde strahlend aus dem Sitz springt. Er verschlingt ein Thüringer Rostbratwürstchen, einen kandierten Apfel, drei Kartoffelpuffer und eine Tüte gebrannte Mandeln.
    Meine Mutter kauft ihm Lose, und er gewinnt einen riesigen Panther aus Plüsch, zu dem er spontan eine intensive Liebesbeziehung aufbaut. Nur widerwillig überlässt er ihn mir zum Festhalten, während er seine Kreise und Spiralen auf dem Ikarus dreht. Aufs Riesenrad nimmt er ihn mit. Ich klettere ebenfalls mit in die Gondel, während meine Eltern vor dem Kassenhäuschen warten. Von ganz oben hat man einen herrlichen Blick über die nächtliche Stadt und den bunt erleuchteten Martinimarkt.
    »Und du bist hier aufgewachsen?«, fragt Anoki, während er die Aussicht genießt.
    »Tja. Mit zwanzig bin ich dann zu Hause ausgezogen, nach Berlin«, antworte ich.
    »War wahrscheinlich ’n bisschen stressig zu Hause nach dem Unfall«, vermutet Anoki.
    Ich nicke nur: tatsächlich war es die reine Hölle. Der leere Platz am Esstisch, die rotgeweinten Augen meiner Mutter, die zusammengesunkene Haltung meines Vaters. Der unausgesprochene Vorwurf. Mörder. Mörder. Mörder. Das verkrampfte Vermeiden jeglicher Themen, die irgendwie im Zusammenhang mit dem Unfall standen. Und mein verzweifeltes Bemühen, es wiedergutzumachen – durch totale Anpassung, durch Kadavergehorsam, durch Unsichtbarmachen. Zu Hause war ich ein Mustersohnroboter, in meinem Freundeskreis dagegen wurde ich zu einem zynischen, gefühlskalten, verbitterten Arschloch. Jedenfalls haben mir das die Ehrlicheren unter ihnen so gesagt, die anderen zogen sich einfach zurück. Meine Freundin Doro hielt es noch drei Monate mit mir aus, ehe sie mich mit den Worten »Du bist ja kein Mensch mehr« in die Wüste schickte.
    Natürlich hatte ich gute Gründe, nach Berlin zu ziehen, immerhin arbeitete ich dort, und der lange Fahrweg jeden Tag, und dann war ich inzwischen zwanzig, und es war sowieso an der Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen. Aber in Wirklichkeit war es bloß eine Flucht. Oder der Versuch einer Flucht, denn auch in Berlin blieb ich der Mörder meines Bruders, nur dass mich nicht mehr so viele Leute umgaben, die das wussten.
    »Hast du manchmal Heimweh?«,

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