Herzenhören
Blüte. Sie sah aus, als erwarte sie jemanden.
Den Toten neben ihr kannte er nicht. Er war in Mi Mis Alter, vermutlich birmanischer Abstammung, aber er konnte unmöglich aus Kalaw oder der näheren Umgebung kommen. Seine Zähne waren trotz des hohen Alters in tadellosem Zustand. Und derart gepflegte Füße hatte der Arzt noch nie gesehen. Sie machten nicht den Eindruck, als wäre der Mann in seinem Leben viel barfuß gelaufen. Seine Hände waren nicht die eines Bauern. Er trug Kontaktlinsen. Vielleicht kam er aus Rangun.
Er schien bei guter Gesundheit gewesen zu sein. Über die Todesursache konnte der Arzt nur spekulieren.
»Herzversagen«, schrieb er auf ein Blatt Papier.
Die Nachricht von Mi Mis Tod verbreitete sich im Ort ebenso schnell wie am Abend zuvor das Gerücht von der Rückkehr Tin Wins. Am Nachmittag standen die ersten Dorfbewohner im Hof, mit kleinen Kränzen aus frischem Jasmin und Sträußen aus Orchideen, Freesien, Gladiolen und Geranien. Sie legten sie auf der Veranda ab und verteilten sie, als dort kein Platz mehr war, auf den Treppen, vor dem Haus und im Hof. Andere trugen Mangos und Papayas, Bananen und Äpfel als Opfergaben den Hügel hinauf und erbauten kleine Pyramiden aus Obst. Es sollte Mi Mi und ihrem Geliebten an nichts fehlen. Räucherstäbchen wurden entzündet und in die Erde oder mit Sand gefüllte Vasen gesteckt.
Bauern kamen von ihren Feldern, Mönche aus ihren Klöstern, Eltern mit ihren Kindern, und wer zu schwach oder zu alt war, den Berg hinaufzugehen, wurde von Nachbarn oder Freunden getragen. Am Abend war der Hof voll von Menschen, Blumen und Früchten. Es war eine klare, milde Nacht, und als das Mondlicht über die Berge fiel, waren der Weg und die angrenzenden Höfe mit Trauernden überfüllt. Sie hatten Kerzen, Taschenlampen und Petroleumleuchten mitgebracht, und wer auf der Veranda von Mi Mis Haus stand, blickte über ein Lichtermeer. Niemand sprach ein lautes Wort. Wer die Geschichte von Tin Win und Mi Mi noch nicht gehört hatte, bekam sie von seinem Nachbarn zugeflüstert. Einige der ältesten Bewohner behaupteten sogar, sie hätten Tin Win gekannt und nie daran gezweifelt, dass er eines Tages zurückkehren würde.
Am nächsten Morgen blieben die Schulen und die Teehäuser, ja selbst das Kloster leer, und es gab niemanden in Kalaw, der nicht wusste, was geschehen war. Unter die Trauer über Mi Mis Tod hatte sich seit den ersten Stunden des Tages eine gewisse Leichtigkeit gemischt. Sie war nicht ohne ihn gestorben. Ihr Warten war belohnt worden. Sie hatte sich nicht getäuscht. Er war zurückgekommen. Nach fünfzig Jahren. Es gab eine Macht, der weder Zeit noch räumliche Entfernung etwas anhaben konnten. Es gab eine Kraft, die Menschen verband und die stärker war als die Angst und das Misstrauen. Eine Kraft, die Blinde zu Sehenden macht und den Gesetzen des Verfalls nicht gehorcht. Es war das Einzige, an das die Menschen in Kalaw an diesem Tag glaubten.
In der Prozession, die den beiden Toten zum Friedhof folgte, wurde geweint und gesungen, wurde getanzt und gelacht. Sie hatten Mi Mi verloren, aber sie hatten etwas anderes dafür gewonnen. Eine Hoffnung, die sie bewahren und weitergeben würden von Generation zu Generation. Niemand konnte ihnen das nehmen.
Der Bürgermeister hatte, in Absprache mit dem Militär, dem Abt und anderen Honoratioren des Ortes, gestattet, dass Mi Mi und Tin Win im Tode eine der größten Ehren zuteil wurde, die Kalaw zu vergeben hatte: Ihre Leichen durften auf dem Friedhof verbrannt werden.
Seit dem Morgengrauen hatten ein Dutzend junger Männer Reisig, Äste und Zweige gesammelt und zu zwei Haufen getürmt. Fast drei Stunden dauerte es, bis der Trauerzug den Weg von Mi Mis Haus zum Friedhof auf der anderen Seite Kalaws zurückgelegt hatte.
Es gab keine Zeremonien und keine Ansprachen. Die Menschen brauchten keinen Trost.
Das Holz war trocken, die Flammen gefräßig. Nach wenigen Minuten fingen die Leichen Feuer.
Es war ein windstiller Tag. Die Rauchsäulen waren weiß, wie die Blüten des Jasmin. Sie stiegen senkrecht in den blauen Himmel.
Niemand, der dabei war, wird diesen Anblick je vergessen.
11
U Bas Erzählung vom Tod meines Vaters traf mich unvorbereitet. Warum? Genug Zeit hätte ich gehabt. Aber was im Leben bereitet uns auf den Verlust unserer Eltern vor?
Mit jeder Stunde, die ich ihm länger zugehört hatte, war meine Zuversicht gewachsen. Seine Erzählung hatte meinen Vater lebendiger gemacht, als ich ihn in
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