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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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rotem Dach, im Tudorstil. Wie Mi Mi es beschrieben hatte. Irgendwo hinter dem nächsten Hügel musste er mit Su Kyi gelebt haben.
    Er stand an einer Weggabelung und wusste nicht wohin. Geradeaus oder nach links, den steileren Anstieg? Vier Jahre lang hatte er Mi Mi diesen Pfad hinaufgetragen, ohne ihn je mit eigenen Augen zu sehen. Er machte die Augen zu. Sie würden ihm jetzt nicht von Nutzen sein, seine Beine würden sich erinnern müssen, seine Nase, seine Ohren. Es zog ihn geradeaus. Mit geschlossenen Augen ging er weiter. Es roch nach reifen Mangos und Jasmin. Tin Win erkannte den Duft. Hier musste der flache Felsen liegen, auf dem sie sich manchmal ausgeruht hatten. Er fand ihn sofort.
    Er hörte das Lachen und Kreischen spielender Kinder in den Höfen. Es waren nicht mehr die Stimmen seiner Kindheit, aber ihr Klang hatte sich nicht verändert. Er staunte, wie sicher er sich mit geschlossenen Augen bewegte. In New York war er, wenn er es versucht hatte, gegen Passanten gelaufen, hatte sich an Laternenpfählen und Bäumen gestoßen. Einmal hätte ihn fast ein Taxi überfahren.
    Hier stolperte er nicht einmal.
    Vor einer Gartenpforte blieb er stehen.
    Der Geruch des Eukalyptus. Wie häufig hatte er an diesen Baum gedacht. Wie viele Stunden hatte er in New York nachts wach gelegen und diesen Duft in der Nase gespürt.
    Er öffnete das Tor. Wie oft hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt.
    Er trat ein. Zwei Hunde streunten um seine Beine. Die Hühner waren im Stall.
    Tin Win hörte Stimmen im Haus. Er zog die Sandalen aus. Seine Füße erinnerten die Erde. Diese weiche, warme Erde, die zwischen den Zehen kitzelte.
    Er tastete sich zur Treppe vor, griff nach dem Geländer. Seine Hände erinnerten das Holz. Nichts hatte sich verändert.
    Er stieg die Treppe hinauf, Stufe für Stufe. Er hatte es nicht eilig. Nicht nach fünfzig Jahren.
    Er ging die Veranda entlang. Die Stimmen wurden leiser. Als er in der Tür stand, verstummten sie.
    Er hörte, wie sich Menschen an ihm vorbei ins Freie schlichen und verschwanden. Selbst die Motten, die eben noch um die Glühbirne gekreist waren, flogen durch das Fenster hinaus in die Dämmerung. Die Käfer, Schaben und Kakerlaken krochen eilig in die Ritzen des Holzes.
    Es war still.
    Er ging auf sie zu, ohne die Augen zu öffnen. Er brauchte sie nicht mehr.
    Jemand hatte ihr ein Bett gebaut.
    Tin Win kniete sich davor. Ihre Stimme. Ihr Flüstern. Seine Ohren erinnerten sich.
    Ihre Hände in seinem Gesicht. Seine Haut erinnerte sich.
    Sein Mund erinnerte sich und seine Lippen. Seine Finger erinnerten sich und seine Nase. Wie hatte er sich nach diesem Geruch gesehnt. Wie hatte er es ohne sie aushalten können? Woher hatte er die Kraft genommen, auch nur einen Tag ohne sie zu sein?
    Das Bett bot Platz für zwei.
    Wie leicht sie war.
    Ihre Haare in seinem Gesicht. Ihre Tränen.
    So viel zu teilen, so viel zu geben, so wenig Zeit.
    Gegen Morgen verließen sie die Kräfte. Mi Mi schlief in seinem Arm ein.
    Die Sonne würde bald aufgehen, Tin Win erkannte es am Gesang der Vögel. Er legte seinen Kopf auf ihre Brust. Er hatte sich nicht getäuscht. Ihr Herz klang müde und schwach. Es wollte nicht mehr.
    Er war rechtzeitig gekommen. Gerade noch.
    10
    E in Verwandter fand sie am späten Vormittag. Er war am Morgen schon einmal da gewesen und hatte geglaubt, sie schliefen.
    Tin Wins Kopf lag auf ihrer Brust, ihre Arme waren um seinen Hals geschlungen. Als er ein paar Stunden später zurückkehrte, waren sie blass und kalt.
    Der Mann eilte hinunter ins Dorf und holte den Doktor aus dem Krankenhaus.
    Der Arzt war nicht überrascht. Seit mehr als zwei Jahren hatte Mi Mi ihr Grundstück nicht mehr verlassen, seit einem Jahr lag sie im Bett. Er hatte täglich mit ihrem Tod gerechnet. Was er mit seinem Stethoskop hörte, klang nicht gut. Ihm war es ein Rätsel, wie sie trotz ihres schwachen Herzens und ihrer entzündeten Lungen überleben konnte. Er hatte ihr mehrmals angeboten, sie in die Hauptstadt zu bringen. Dort war die medizinische Versorgung zwar auch erbärmlich, aber immerhin besser als hier. Sie hatte es abgelehnt. Wenn er sie fragte, wie sie es fertig brächte, trotz der vielen Entzündungen in ihrem Körper am Leben zu bleiben, lächelte sie nur. Vor ein paar Tagen erst hatte er sie besucht und ihr Medikamente gebracht. Er war erstaunt gewesen, wie munter sie wirkte. Besser als in den Monaten zuvor. Sie saß aufrecht im Bett, summte vor sich hin, in ihrem Haar steckte eine gelbe

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