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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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früh.
    Ich war nervös und unruhig. Wer erwartete uns? Waren wir auf dem Weg zu meinem Vater und Mi Mi?
    »Viel kann ich Ihnen nicht mehr erzählen«, sagte U Ba und blieb kurz stehen. »Über die Zeit in Amerika wissen Sie mehr.«
    Da war sie wieder, die Frage, die ich in den vergangenen zwei Tagen verdrängt hatte. Was wusste ich wirklich?
    Ich hatte Erinnerungen. Viele schöne und zärtliche Erinnerungen, für die ich dankbar war, aber was waren sie wert, wenn es darum ging, meinen Vater zu verstehen? Es war die Welt aus der Sicht eines Kindes. Die Fragen, die mir durch den Kopf gingen, beantworteten sie mir nicht. Warum ist mein Vater nach dem Krieg nicht nach Kalaw zurückgekehrt?
    Weshalb hat er meine Mutter geheiratet? Liebte er sie? Betrog er sie mit Mi Mi oder Mi Mi mit ihr?
    »U Ba, warum ist mein Vater nach dem Studium in New York geblieben?« Ich erschrak über meinen Ton. Es war der Ton meiner Mutter, wenn sie erbost war und versuchte, ihre Wut zu unterdrücken.
    »Was vermuten Sie, Julia?«
    Ich wollte nichts vermuten. Ich wollte Antworten. Die Wahrheit. »Ich weiß es nicht.«
    »Hatte Ihr Vater eine Wahl? Wäre er nach Birma zurückgekehrt, hätte er sich den Wünschen seines Onkels fügen müssen. Er stand in seiner Schuld. U Saw hatte die Rolle des Vaters übernommen, dessen Willen sich ein Sohn nicht widersetzt. In Rangun wartete nicht Mi Mi auf ihn, sondern ein verplantes Leben. Eine junge Braut. Ein großes Unternehmen. New York war seine einzige Chance, all dem zu entkommen.« Er schaute mich an, als könnte er in meinen Augen sehen, ob er mich überzeugte. »Vergessen Sie nicht«, fuhr er fort, »es ist fünfzig Jahre her. Was Familien betrifft und die Verpflichtungen, die wir ihnen gegenüber haben, sind wir ein sehr konservatives Land, damals wie heute.«
    Ich dachte an U Bas Entscheidung, seine Mutter zu pflegen anstatt zu studieren. Vielleicht musste ich einfach akzeptieren, dass ich weder seine Wahl noch die meines Vaters mit meinen Maßstäben messen durfte. Stand mir ein Urteil zu? War ich hier, um meinen Vater zu finden, ihn zu verstehen oder ihn zu richten?
    »Nach U Saws Tod hätte er zurückkommen können.« Es war ein Vorschlag, eine versteckte Frage, keine Anklage mehr.
    »U Saw starb im Mai 1958.«
    Drei Monate vor der Geburt meines Bruders. War das der Grund, weshalb mein Vater zu seinem Sohn nie ein besonders gutes Verhältnis entwickelt hatte? Hatte er seinetwegen meine Mutter nicht verlassen?
    »Warum hat er meine Mutter geheiratet? Warum hat er nicht U Saws Tod abgewartet und ist dann zu Mi Mi zurückgekehrt?«
    »Ich fürchte, dass ich Ihnen diese Frage nicht beantworten kann.«
    Es war das erste Mal, dass ich eine Irritation in U Bas Stimme bemerkte. Er war nicht böse, eher ratlos. Ich dachte an die Zeilen meiner Mutter, die sie mir kurz vor meiner Abreise geschrieben hatte. Mein Vater hatte sich lange geweigert, sie zu heiraten, er hatte sie vor einer Hochzeit gewarnt. Warum hat er am Ende doch nachgegeben? War er einsam nach all den Jahren allein in New York? Suchte er Trost? Hatte er gehofft, bei ihr Mi Mi vergessen zu können? Nach allem, was ich jetzt weiß, sehr unwahrscheinlich. Liebte er sie? Ich konnte diesen Satz nicht klar denken. Er klang nicht wahr. Nicht aus der Sicht meiner Mutter. Hat er gehofft, er würde sie eines Tages lieben? War die Sehnsucht nach einer eigenen Familie am Ende zu groß und er deshalb schwach geworden?
    Vielleicht liebte er sie, und sie konnte es nicht sehen, nicht glauben, weil es nicht ihre Art der Liebe war.
    Meine Mutter tat mir Leid. Ich hatte sie vor Augen, ihr hartes, verbittertes Gesicht bei unserem Mittagessen. Ich hörte ihre kühle, schneidende Stimme, wenn mein Vater spät nach Hause kam, weil er wieder einmal die Fähre nach Staten Island genommen hatte. Mir kamen die Tage in den Sinn, die sie in regelmäßigen Abständen in ihrem abgedunkelten Zimmer verbrachte. Ans Bett gefesselt von einer mysteriösen Krankheit, deren Namen wir Kinder nie erfuhren. Niemand außer unser Hausarzt durfte sie besuchen, selbst mein Vater nicht. Heute weiß ich, dass sie unter Depressionen litt. Meine Eltern wären jeder ohne den anderen glücklicher gewesen, und sie haben es zu spät bemerkt.
    Sie taten mir beide Leid. Was immer mein Vater für meine Mutter empfunden hat, wie sehr er manche Stunden mit uns, seinen Kindern, genossen haben mag, er war nicht dort, wo er hingehörte. Er lebte nicht bei Mi Mi.
    War es seine Schuld, weil er dem

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