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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Drängen meiner Mutter nachgegeben hatte? War es ihre, weil sie etwas von ihm verlangte, was er nicht geben konnte? Waren es unglückliche Umstände, falsche Vorstellungen vom anderen, gekränkte Eitelkeit? Die Unfähigkeit zu vergessen und zu verzeihen? Spielte die Frage der Schuld eine Rolle?
    Wir gingen schweigend weiter. Der Weg fiel sanft ab und machte vor einer wild wuchernden Hecke einen scharfen Bogen. Wir gingen geradeaus, zwängten uns durch die Büsche, kreuzten die Bahngleise, liefen eine Wiese hinauf und bogen dann auf einen Pfad, der uns zu einem etwas abseits gelegenen Teil Kalaws brachte. U Ba führte mich an mehreren Höfen vorbei, in denen Kinder spielten. Vor einer Gartenpforte blieben wir stehen. Der Hof war sehr gepflegt, jemand hatte ihn vor kurzem gefegt. In einem Trog lag frisches Hühnerfutter, unter der Veranda ein Stapel Feuerholz und ein Reisighaufen. Das Haus war nicht groß, aber in sehr gutem Zustand. Auf der Veranda sah ich Blechtöpfe und Essgeschirr. Wir setzten uns auf die obersten Stufen der Treppe und warteten.
    Ich blickte über den Hof. Ein Eukalyptusbaum bildete die Grenze zum Nachbargrundstück. Vor dem Hühnerstall konnte ich einen Holzbalken zum Sitzen erkennen, davor lag ein Mörser aus Stein. Ich betrachtete die breiten Gitterstäbe der Veranda – ein Kind hätte sich gut an ihnen aufrichten können. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Einzelteile ein Bild ergaben. Ich wusste, wo wir uns befanden. Ich sprang auf und drehte mich um.
    Ich hörte den Atem meines Vaters im Haus. Ich hörte Mi Mi über den Boden kriechen. Ich hörte ihr Flüstern. Ihre Stimmen. Ich hatte sie eingeholt.
    U Ba begann zu erzählen.
    9
    E s wurde still im Teehaus, nachdem der Fremde seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. Man hörte das Flackern der Kerzen und das gleichmäßige Atmen der Gäste. Niemand bewegte sich. Selbst das Summen der Fliegen war verstummt. Sie saßen auf ihren klebrigen Zuckerkeksen und rührten sich nicht.
    Tin Win hatte erzählt, was er erzählen musste. Nun versagte seine Stimme. Seine Lippen formten Worte, aber sie klangen nicht mehr. Würde er je wieder etwas sagen? Er stand auf, trank einen Schluck kalten Tee, streckte sich kurz und ging zur Tür. Es war an der Zeit. Er wandte sich noch einmal um und verabschiedete sich. Ein Lächeln war das Letzte, was sie von ihm sahen.
    Auf der Straße stand ein Lastwagen voller Soldaten. Kinder in grünen Uniformen. Die Menschen schienen sie nicht zu beachten und machten gleichzeitig einen großen Bogen um den Wagen. Es war spät geworden.
    Tin Win zog den Knoten seines Longys fester und ging mit langsamen Schritten die Hauptstraße hinunter. Zu seiner Rechten lag das Kloster. An mehreren Stellen waren Bretter aus den Wänden gebrochen, und das verrostete Wellblechdach sah nicht so aus, als würde es viel Schutz vor Regen bieten. Nur die Glöckchen der Pagoden bimmelten wie früher. Ihm kamen einige junge barfüßige Mönche entgegen. Der Staub hatte ihre rotbraunen Kutten grau gefärbt. Er lächelte ihnen zu, sie lächelten zurück.
    Er lief am leeren Marktplatz vorbei und am kleinen Bahnhof, er überquerte die Gleise und schritt langsam den Hügel hinauf, auf dem ihr Hof lag. Er war sicher, dass sie im Haus ihrer Eltern lebte. Immer wieder blieb er stehen und schaute sich um. Er hatte es nicht eilig. Nicht nach fünfzig Jahren. Er war nicht einmal aufgeregt. Seit der Sekunde, in der die Thai Air Boeing 737 in Rangun aufgesetzt hatte, war alle Nervosität gewichen, und er erlaubte sich stattdessen den Luxus der Freude. Eine Freude, die maßlos war, die keine Angst und keine Vorsicht mehr kannte, die mit jeder Stunde wuchs. Er hatte sich ihr hingegeben, und jetzt war sie so groß, dass er die Tränen kaum zurückhalten konnte. Ein halbes Jahrhundert war vergangen. Er war am Ziel.
    Der Anblick Kalaws faszinierte ihn. Fremd und vertraut zugleich. Tin Win erinnerte die Gerüche. Er wusste, wie das Dorf im Winter roch und im Sommer, an Markttagen und an Feiertagen, wenn der Duft der Räucherstäbchen die Gassen und Häuser füllte. Tin Win kannte die Geräusche des Ortes. Sein Kalaw stöhnte und schnaufte, es quietschte und schepperte, es konnte singen und weinen. Wie es aussah, wusste er nicht. Gesehen hatte er es zuletzt als Kind, und selbst da nur mit getrübtem Blick. Er entdeckte den englischen Club, in dessen leeren Swimmingpool junge Bäume wuchsen, dahinter sah er den Tennisplatz liegen, darüber das Kalaw-Hotel, weiß mit

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