Herzenhören
Entscheidung anders getroffen hätte, wäre er noch bei uns. Bis vor einer Woche dachte ich so. Es war kurz nach acht Uhr und schon dunkel, als ich abends aus dem Büro nach Hause kam und mich der Doorman aus dem Fahrstuhl zurückrief. Draußen regnete es heftig, meine Schuhe waren nass, ich fror und wollte in meine Wohnung.
»Was gibt’s«, fragte ich ungeduldig.
»Post für Sie«, sagte er und verschwand in einem Lagerraum.
Ich blickte durch die große Glasfront der Lobby auf die Straße. Die roten Rücklichter der Autos glänzten auf dem nassen Asphalt. Ich freute mich auf eine warme Dusche und einen heißen Tee. Der Doorman gab mir eine Tüte mit einem braunen Paket von der Größe eines Schuhkartons. Ich klemmte es unter den Arm und fuhr in meine Wohnung in den vierunddreißigsten Stock.
Eine kleine Wohnung. Schlafzimmer, Bad und Wohnzimmer mit offener Küche, ich hatte sie sparsam, aber mit ausgesuchten Möbeln eingerichtet. Ein langer Holztisch, vier Metallstühle, ein Sessel vor dem Fenster, die Stereoanlage auf dem Fußboden, an den weißen Wänden zwei Bilder von Basquiat, meinem Lieblingsmaler. Ich mochte die Wohnung vor allem wegen ihres Blickes. Die Fensterfront reichte von der Decke bis zum Parkettfußboden und an klaren Tagen lag Manhattans Skyline vor mir. Der Blick aus dem Fenster war ein Gemälde, ein geniales Kunstwerk, das lebte und als Beweis jede Nacht seine Formen und Farben veränderte.
An manchen Abenden stand ich auf meinem kleinen Balkon und träumte. Dann blickte ich auf Manhattan mit einem Gefühl, als hätte ich es erschaffen, streckte die Arme aus und stellte mir vor, ich könnte fliegen. Es war meine Stadt.
Ich hörte den Anrufbeantworter ab, acht Nachrichten, alle geschäftlich. Auf dem Tisch lag ein Haufen Post, Rechnungen und Werbebriefe. Es roch nach Putzmitteln, und ich öffnete die Balkontür. Es regnete noch immer, und die Wolken hingen so tief, dass ich kaum das andere Ufer des East River sehen konnte. Unter mir stauten sich die Autos auf der zweiten Avenue und der Queensboro Bridge, das Hupen drang bis hinauf in den vierunddreißigsten Stock.
Nach dem Duschen holte ich das Paket aus der Tüte. Ich erkannte die Schrift meiner Mutter sofort. Sie schickte mir gelegentlich Karten mit Grüßen oder Zeitungsausschnitte, von denen sie annahm, dass sich mich interessierten, oder fand, dass sie mich interessieren sollten. Sie verabscheute Anrufbeantworter, und das war ihre Art, Nachrichten zu hinterlassen. Ein Paket hatte sie mir lange nicht mehr geschickt; sonderbar, zumal wir für morgen zum Essen verabredet waren. Ich öffnete es und fand einen Stapel alter Fotos, Dokumente und Unterlagen meines Vaters, dazu ein paar Zeilen von ihr.
Julia, ich entdeckte diesen Karton beim Ausmotten auf dem Dachboden. Er war hinter die alte chinesische Kommode gefallen. Vielleicht interessieren dich die Sachen. Dazu habe ich das letzte Foto von uns Vieren gelegt. Ich brauche nichts mehr davon. Freu mich auf Samstag,
deine Judith
Ich breitete den kleinen Stapel auf dem Tisch aus. Obendrauf lag das Familienfoto, entstanden am Tag meines Examens. Ich stehe strahlend zwischen meinen Eltern und habe mich bei ihnen eingehakt. Mein Bruder steht hinter mir und hat seine Hände auf meine Schultern gelegt. Meine Mutter lacht stolz in die Kamera. Auch mein Vater lächelt. Wie Fotos lügen können. Die perfekte, glückliche Familie, nichts deutet daraufhin, dass dies unser letztes gemeinsames Bild ist, oder schlimmer noch, dass einer von uns hinter dem Rücken der anderen schon lange seinen Abschied geplant hat. Ich hatte mir dieses Bild nach Vaters Verschwinden häufig und lange angeschaut, als könnte ich darin Antworten auf meine Fragen finden, als gäbe es irgendwo ein Detail, einen versteckten Hinweis, der das Rätsel lösen würde. Ich habe sein Gesicht mit einer Lupe studiert, vor allem seine Augen, die so strahlen konnten, die es ihm unmöglich machten, Freude zu verbergen. Auf dem Bild sind die Augen leer, er sieht abwesend aus, als hätte er sich bereits davongestohlen.
Darunter lagen zwei abgelaufene Reisepässe, seine amerikanische Einbürgerungsurkunde und ein paar alte, engzeilig voll geschriebene Terminkalender. Boston. Washington. Los Angeles. Miami. London. Hongkong. Paris. Es gab Jahre, da umrundete mein Vater die Welt gleich mehrmals. Er war in seiner Kanzlei zu einem der acht Teilhaber aufgestiegen und hatte sich als Rechtsanwalt früh auf die Unterhaltungsindustrie spezialisiert.
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