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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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Er beriet Hollywood-Studios bei Filmverträgen, Übernahmen und Zusammenschlüssen. Zudem gehörten einige der großen Stars zu seinen Klienten.
    Ich habe nie wirklich verstanden, warum er in seinem Beruf so erfolgreich war. Er arbeitete viel, aber strahlte dabei keinerlei persönlichen Ehrgeiz aus, er war weder eitel, noch versuchte er, am Ruhm seiner Klienten teilzuhaben. Sein Name tauchte nie in den Klatschspalten auf, er besuchte keine Partys, nicht einmal die opulenten Wohltätigkeitsbälle, die meine Mutter und ihre Freundinnen organisierten. Das für Einwanderer so typische Bedürfnis, irgendwo dazugehören zu wollen, war ihm fremd. Er war ein Einzelgänger und das Gegenteil von dem Bild, das man sich von einem Showbiz-Staranwalt macht. Vielleicht war es genau das, was Vertrauen einflößte und ihn zu einem begehrten Verhandlungspartner machte. Die Ruhe und Gelassenheit, das Unprätentiöse, diese immer etwas weltfremde, abwesende Art, unbeeindruckt von Geld oder Ruhm. Hinzu kamen zwei außergewöhnliche Fähigkeiten, so ausgeprägt, dass sie seinen Partnern und seinen wenigen Freunden manchmal unheimlich waren: Er besaß ein fast fotografisches Gedächtnis und eine unglaubliche Menschenkenntnis. Mein Vater überflog Bilanzen und Vertragsentwürfe und kannte sie auswendig, er zitierte aus Memos und Briefwechseln, die Jahre zurücklagen. Am Beginn von Gesprächen schloss er häufig die Augen und konzentrierte sich auf die Stimmen seiner Gegenüber. Als versinke er in einer Oper. Nach wenigen Sätzen wusste er um ihr Befinden, spürte, ob sie sich ihrer Sache sicher waren, ob sie die Wahrheit sagten oder pokerten. Es klappte nicht immer, aber oft. Früher sei er darin unfehlbar gewesen, behauptete er. Es sei erlernbar, aber wer es ihm wann und wo beigebracht hatte, wollte er mir nicht verraten, so sehr ich auch bettelte.
    Nicht einmal in meinem Leben habe ich ihn anlügen können. Nicht wirklich.
    Der älteste Kalender stammte aus dem Jahr 1960. Ich blätterte ihn durch, nichts als geschäftliche Termine, fremde Namen, Orte und Uhrzeiten. In der Mitte lag ein Zettel, ich erkannte die Handschrift meines Vaters sofort.
    How much does a man live, after all?
    Does he live a thousand days, or one only?
    For a week, or for several centuries?
    How long does a man spend dying?
    What does it mean to say »for ever«?
    Pablo Neruda
    Ganz hinten steckte ein blauer Briefumschlag aus dünnem Luftpostpapier, säuberlich zu einem kleinen Rechteck zusammengefaltet. Ich nahm ihn heraus und öffnete ihn. Auf dem Kuvert stand eine Adresse:
    Mi Mi
    38, Circular Road
    Kalaw, Shan State
    Burma
    Ich zögerte. Barg dieser unscheinbare, hauchdünne, blaue Bogen Papier den Schlüssel zum Geheimnis meines Vaters? Gab es zum ersten Mal seit seinem Verschwinden die Möglichkeit, mehr herauszufinden?
    Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich wollte. Welche Rolle spielte die Wahrheit heute, vier Jahre später, noch? Meine Mutter hatte mit dem Rätsel Frieden geschlossen und ihr ging es vermutlich besser als während ihrer Ehe. Mein Bruder lebte in Kalifornien und war dabei, eine Familie zu gründen. Er hatte kein besonders gutes Verhältnis zu meinem Vater gehabt und ihn bestimmt seit zwei Jahren nicht mehr erwähnt. Ich konzentrierte meine Kraft auf meinen Beruf und machte Karriere als Anwältin. Mein Terminkalender für die kommenden Monate war voll. Ich arbeitete an zwei großen Fällen und hatte keine Zeit, nicht einmal für einen Freund. Wir hatten uns mit unserer Version der Ereignisse eingerichtet und lebten nicht schlecht damit. Ich hatte im Augenblick weder die Energie noch das Interesse, mich mit alten Geschichten zu beschäftigen. Wozu auch? Mir ging es gut.
    Ich nahm den Brief und ging zum Gasherd. Ich könnte ihn verbrennen, die Flammen würden das leichte Papier in wenigen Sekunden in Asche verwandeln. Ich stellte den Herd an, hörte das Gas rauschen, das Klicken des automatischen Anzünders, die Flamme. Ich hielt den Umschlag nahe ans Feuer. Eine Bewegung, und unsere Familie hätte ihren Frieden. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor dem Herd stand, ich erinnere mich nur, dass mir plötzlich die Tränen kamen. Sie liefen mir die Wangen hinab, ich wusste nicht, warum ich weinte, aber die Trauer wurde größer und größer, und irgendwann fand ich mich auf meinem Bett wieder, weinend und schluchzend wie ein Kind.
    Die Uhr an meinem Bett zeigte 5.20 Uhr, als ich aufwachte. Ich spürte das Weinen noch in meinem Körper,

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