Herzenhören
erinnerte mich ein paar Atemzüge lang nicht an den Anlass und hoffte, das alles sei ein Traum gewesen. Dann fiel mein Blick auf den Brief. Ich stand auf und zog mich aus, duschte, warf einen Bademantel über, steckte ein gefrorenes Croissant in die Mikrowelle und machte mir einen Milchkaffee. Am Tisch entfaltete ich behutsam den Brief. Als könnte er in meinen Fingern zerplatzen wie eine Seifenblase.
New York, 24. April 1955
Geliebte Mi Mi,
fünftausendachthundertundvierundsechzig Tage sind vergangen, seit ich zum letzten Mal dein Herz habe schlagen hören. Weißt du eigentlich, wie viele Stunden das sind? Wie viele Minuten? Weißt du, wie arm ein Vogel ist, der nicht singen kann, eine Blume, die nicht blüht? Wie elend ein Fisch zu Grunde geht, wenn man ihm das Wasser nimmt?
Es ist schwer, dir einen Brief zu schreiben, Mi Mi. So viele habe ich geschrieben und dann nicht abgeschickt. Was kann ich dir berichten, was du nicht schon wüsstest? Als ob wir Tinte und Papier, Buchstaben und Wörter bräuchten, um zu wissen, wie es uns geht. Du bist bei mir gewesen, jede der 140736 Stunden, ja, so viele waren es bereits, und du wirst bei mir sein, bis wir uns wiedersehen. (Verzeih mir, wenn ich das Selbstverständliche ausspreche, nur dieses eine Mal.) Ich werde zurückkehren, wenn die Zeit gekommen ist. Wie flach und leer die schönsten Worte klingen können. Wie trist und trostlos muss das Leben sein für Menschen, die Worte brauchen, um sich zu verständigen, die sich berühren, sehen oder hören müssen, um einander nah zu sein. Die sich ihre Liebe beweisen oder auch nur bestätigen müssen, um sich ihrer sicher zu sein. Ich merke, auch diese Zeilen werden nicht auf den Weg zu dir gehen. Du hast längst gespürt, was ich dir schreiben wollte, und so sind diese Briefe in Wahrheit an mich gerichtet, nur Versuche, die Sehnsucht zu besänftigen.
Hier brach der Brief ab. Ich las ihn ein zweites und ein drittes Mal, faltete ihn und steckte ihn zurück in den Umschlag. Ich schaute auf die Uhr. Es war Samstagmorgen, kurz nach sieben. Es hatte aufgehört zu regnen, die Wolken hatten einem tiefblauen Himmel Platz gemacht, unter dem Manhattan langsam erwachte. Über dem East River ging die Sonne auf, sie schien in mein Wohnzimmer und tauchte alles in ein warmes, rötliches Licht. Es würde ein kalter, schöner Tag werden.
Ich holte einen Zettel und wollte mir Notizen machen, die Situation analysieren, eine Strategie entwerfen, so wie ich es im Büro tat. Das Papier blieb weiß.
Ich hatte den Zeitpunkt der Entscheidung verpasst. Sie war gefallen, auch wenn ich nicht wusste, wer sie für mich getroffen hatte.
Die Nummer von United Airlines kannte ich auswendig. Der nächste Flug nach Rangun ging am Sonntag über Hongkong und Bangkok. Dort müsste ich mir ein Visum besorgen und könnte dann am Mittwoch mit Thai Air weiter nach Birma.
»Und der Rückflug?«
Ich überlegte kurz.
»Bleibt offen.«
5
M eine Mutter wartete bereits. Wir waren um halb zwei bei Sant Ambroeus auf der Madison Avenue zum Mittagessen verabredet. Es war zwanzig nach eins, und sie saß, wie fast jeden Sonnabend, auf ihrem Platz ganz hinten, auf der mit rotem Samt gepolsterten Bank, von wo aus sie das kleine Lokal und die Cappuccinobar im vorderen Raum überblicken konnte, in der Hand ein fast leeres Glas Weißwein. Seit der Eröffnung dieses italienischen Restaurants vor zwölf Jahren gehörten meine Mutter und ihre Freundinnen zu den Stammgästen. Sie mochten die leicht blasierten Kellner in ihren schwarzen Smokings und vor allem Paolo, den Inhaber, der sie jedes Mal mit großer Geste und Handkuss begrüßte, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Oft aßen sie bei ihm zwei- oder dreimal in der Woche, planten ihre Wohltätigkeitsbälle für den Winter, schimpften über den Verkehr in den Hamptons im Sommer.
Meine Mutter hatte schon bestellt; es gehörte zu unseren Ritualen, dass sie bei Sant Ambroeus für mich aussuchte. Vor ihr stand ein Teller mit drei Scheiben Tomaten und frischem Büffelmozzarella. Auf mich wartete ein kleiner Salat.
Sie erzählte von dem Wohltätigkeitsball des Tierschutzvereins, dessen Schirmherrin sie war, und von Francis-Bacon-Bildern, die sie im MoMA gesehen hatte und schrecklich fand. Ich nickte, ohne ihr wirklich zuzuhören.
Ich war nervös. Wie würde sie auf meine Pläne reagieren?
»Ich verreise am Montag«, sagte ich. Meine Stimme klang noch zaghafter, als ich es befürchtet hatte.
»Wohin?«, fragte
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