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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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sie.
    »Nach Birma.«
    »Mach dich nicht lächerlich«, sagte sie, ohne von ihrem Mozzarella aufzublicken.
    Es waren solche Sätze, mit denen sie mich seit meiner Kindheit zum Schweigen bringen konnte. Ich trank einen Schluck von meinem Mineralwasser und betrachtete meine Mutter. Sie hatte ihr graues Haar wieder dunkelblond färben und kurz schneiden lassen. Die kurzen Haare machten sie jünger, aber auch strenger. Ihre spitze Nase war in den vergangenen Jahren noch spitzer geworden, ihre Oberlippe war fast verschwunden und die sich mehr und mehr nach unten neigenden Mundwinkel gaben ihrem Gesicht etwas Bitteres. Ihre blauen Augen hatten den Glanz verloren, den ich aus meiner Kindheit erinnerte. War es das Alter, oder sieht so eine Frau aus, die nicht geliebt worden ist? Oder nicht so, wie sie es gebraucht oder gewollt hätte?
    Wusste sie von Mi Mi und hat es uns Kindern verheimlicht? Sollte ich ihr von dem Brief erzählen?
    Sie aß ein Stück Tomate mit Käse und schaute mich an. Ich konnte ihren Blick nicht deuten und wich ihm aus.
    »Wie lange bleibst du weg?«
    »Ich weiß es noch nicht.«
    »Und dein Job? Was ist mit den Verhandlungen in Washington, von denen du mir erzählt hast?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht können sie zwei Wochen warten.«
    »Du bist verrückt. Du riskierst deine Karriere. Wofür?«
    Die Frage hatte ich erwartet und befürchtet. Ich wusste keine Antwort. Der Brief an Mi Mi war vierzig Jahre alt. Ich glaubte nicht, dass er wirklich etwas mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun hatte. Ich wusste nicht, wer Mi Mi war, wo sie war, welche Rolle sie im Leben meines Vaters gespielt hatte und ob sie noch lebte. Ich hatte einen Namen und eine alte Adresse in einem Dorf, von dem ich mir nicht einmal sicher war, wo es lag. Ich bin kein Mensch, der leichtfertig seinen Gefühlen folgt, ich vertraue meinem Intellekt mehr als meinen Instinkten.
    Und trotzdem. Ich musste mich auf die Suche machen. Etwas zog mich an diesen Ort, eine Kraft, die ich nicht kannte und der ich keinen Widerstand leisten konnte, der ich nichts entgegenzusetzen hatte als rationale Argumente. Zum ersten Mal in meinem Leben war das nicht genug.
    »Was suchst du in dem Land?«, hörte ich meine Mutter fragen.
    »Die Wahrheit«, antwortete ich. Es sollte eine Feststellung sein, klang aber eher wie eine Frage.
    »Die Wahrheit. Die Wahrheit«, wiederholte sie. »Wessen Wahrheit? Seine Wahrheit? Deine Wahrheit? Meine kann ich dir hier und jetzt in drei Sätzen sagen. Wenn sie dich interessiert.«
    Ihre Stimme klang alt und bitter. Ich hatte nicht geahnt, wie verletzt meine Mutter war. Wir hatten darüber nie gesprochen, nicht über ihre Ehe und nicht über ihren Satz »Dein Vater hat mich nicht erst an dem Tag verlassen, an dem er verschwand«.
    »Ich möchte wissen, was mit meinem Vater geschehen ist. Warum kannst du das nicht verstehen?«
    »Welche Rolle spielt das jetzt, vier Jahre später?«
    »Vielleicht lebt er noch?«
    »Selbst wenn. Glaubst du nicht, er hätte sich gemeldet, wenn er noch etwas von uns wissen wollte?«
    Sie sah mir an, dass mich der Gedanke traf und fügte hinzu: »Oder möchtest du Detektiv spielen? Das kann die Polizei besser. Was immer du in seinen alten Sachen gefunden hast, warum gibst du es nicht Lauria? Ruf ihn an. Er wird sich freuen.«
    Auf diese Idee war ich auch gekommen. Ein paar Stunden nachdem ich den Flug gebucht hatte, saß ich in meiner Wohnung, blickte über die Stadt und fand die Idee plötzlich lächerlich. Auf was für ein Abenteuer wollte ich mich einlassen? Als wäre ich ein Teenager, der alles stehen und liegen lässt, um seiner großen Liebe einmal um die Welt zu folgen. So spontan war ich mit achtzehn nicht, warum sollte ich es mit siebenundzwanzig sein? Ein Blick in den Terminkalender zeigte mir, wie albern meine Pläne waren. Wir bereiteten die Fusion von zwei Telefongesellschaften vor, in der kommenden Woche standen entscheidende Gespräche beim Kartellamt in Washington an, anschließend Verhandlungen in Phoenix und Austin.
    Wo war da Platz für Mi Mi?
    Ich wollte Lauria von meinem Fund erzählen und ihn um Rat fragen.
    »Lauria«, meldete er sich.
    Lauria. Es genügte. Ich kannte den berechnenden Ton, die falsche Herzlichkeit, das gespielte Interesse nur zu gut. Das alles war mir aus meinem Büro vertraut; ich kannte das von mir, wenn ich mit jemandem sprach, von dem ich etwas wollte oder brauchte. Ich hörte seine Stimme und wusste, dass er nie von Mi Mi erfahren würde. Die

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