Herzenhören
war ruhig, oft sehr still, und in der Zeit vor seinem Verschwinden ruhte er noch mehr in sich als sonst.«
»Er hat besonders viel Musik gehört in den letzten Wochen, stundenlang vor dem Einschlafen«, fügte meine Mutter hinzu. »Er brauchte ja nicht viel Schlaf, vier, fünf Stunden pro Nacht, mehr nicht.«
»Hörte er etwas Bestimmtes?«
»Meistens seine Lieblingskomponisten: Bach, Mozart, Beethoven, Puccini-Opern, vor allem La Bohème .
Lauria schrieb ein paar Sätze in seinen Block. »Mir ist aufgefallen, dass sowohl sein Büro wie auch sein Arbeits- und Schlafzimmer ungewöhnlich aufgeräumt waren. Leere Schreibtische, die Korrespondenzen erledigt, nicht einmal ein halb gelesenes Buch lag auf dem Nachttisch.«
Meine Mutter nickte. »So war er.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Lauria.
»Penibel und ordentlich, sehr organisiert und weit vorausplanend. Aber was sagt Ihnen das?«
Lauria schwieg. »Wir vermuten«, sagte er nach einer langen Pause, »dass die Gründe für das rätselhafte Verschwinden Ihres Mannes in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens zu suchen sind, und ohne Ihre Unterstützung werden wir uns weiter im Kreis drehen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß«, unterbrach ihn meine Mutter. »Mein Mann hat über diese Zeit nicht gesprochen, mit niemanden.«
»Sie haben einen Menschen geheiratet, den Sie nicht kannten und von dem Sie nichts wussten?«, fragte Lauria. Seine Stimme klang nicht mehr vorwurfsvoll oder anklagend, sie war kalt und zynisch.
»Ich wusste, was ich wissen musste«, antwortete meine Mutter in einem scharfen Ton, der das Gespräch beenden sollte. »Ich liebte ihn. Mehr interessierte mich nicht.«
Lauria stand auf. Er nahm Kugelschreiber und Notizblock vom Tisch und steckte sie ein. Er konnte meine Mutter nicht verstehen, selbst wenn er gewollt hätte. Er gehörte zu den Menschen, die ein Nein als Antwort nicht gelten lassen, vermutlich in seiner Ehe ebenso wenig wie in seinem Beruf. Er ahnte nicht, dass meine Mutter und er in dieser Hinsicht eigentlich Seelenverwandte waren, und so konnte er auch nicht ermessen, wie schwierig es für sie gewesen war, mit dem Schweigen meines Vaters zu leben.
Lauria blickte uns an, als wolle er etwas sagen, ließ es dann aber.
Er ging zur Tür. »Ich rufe Sie an, wenn wir etwas Neues wissen«, sagte er.
»Danke«, sagte meine Mutter kühl.
Als Lauria gegangen war, setzte sie sich auf seinen Stuhl. Sie schwieg. Die Stille wurde mit jedem Atemzug bedrückender. Worüber schwiegen wir? Sagte meine Mutter die Wahrheit? War sie die Komplizin meines Vaters? Unser Schweigen lastete auf meinen Schultern und meinem Magen, und ich spürte, wie es in den Händen anfing zu kribbeln, als traktiere mich jemand mit Nadeln. Das Gefühl kroch die Arme hoch und in die Brust, und ich wusste, wenn es meinen Kopf erreicht, werde ich ohnmächtig. Ich wollte etwas sagen. Nicht ein Wort konnte ich herauspressen.
Es war meine Mutter, die mich erlöste. Sie stand auf, kam zu mir und nahm mich in den Arm. Ich spürte, dass sie geweint hatte.
»Dein Vater hat mich nicht erst an dem Tag verlassen, an dem er verschwand.«
4
G ibt es Augenblicke, in denen ein Leben eine neue Wendung nimmt? In der die Welt, wie wir sie kennen, aufhört zu existieren? Die uns von einem Herzschlag zum anderen in einen anderen Menschen verwandelt? Der Moment, in dem der geliebte Mensch gesteht, dass er jemand anderen liebt und uns verlässt? Der Tag, an dem wir Vater oder Mutter oder unseren besten Freund beerdigen? Die Sekunde, in der uns der Arzt mitteilt, dass in unserem Kopf ein Tumor wächst?
Oder sind es immer nur Endpunkte langer Entwicklungen, die wir hätten kommen sehen können, hätten wir die Warnzeichen ernst genommen, anstatt sie zu ignorieren? Verändern sie unser Leben wirklich grundsätzlich, oder sind es nur Phasen der Trauer oder des Aufruhrs, nach denen wir weiterleben mit denselben Gewohnheiten, denselben Vorlieben und Abneigungen, denselben Ängsten und Zwängen, nur vielleicht in anderen Kleidern?
Und wenn es diese Wendepunkte gibt, sind wir uns ihrer bewusst in jenen Augenblicken oder erkennen wir den Bruch erst viel später, in der Rückschau?
Fragen, die mich bisher nicht interessiert hatten und auf die ich keine Antwort wusste. Das Verschwinden meines Vaters war jedenfalls kein solches Erlebnis. Ich liebte ihn, ich vermisste ihn, aber ich glaube nicht, dass in den vergangenen vier Jahren mein Leben anders verlaufen wäre, ich eine wichtige
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