Herzenhören
Thermoskanne heißes Wasser in ein Glas und machte mir einen Nescafé. Ich legte das Buch auf meine Knie und schlug es auf. Die Seiten waren ähnlich zerfressen wie die der anderen Bücher. Ich strich mit dem Zeigefinger über ein Blatt, beiläufig, als würde ich den Fleiß meiner Putzfrau prüfen und über ein leicht angestaubtes Regal streichen. Das Buch war mir unheimlich. Ich klappte es zu und legte es auf den Tisch. Als berge es bösartige Viren und ich könnte mich infizieren. Es machte mir Angst.
In der Ferne hörte ich jemanden singen. Es waren mehrere Stimmen, schwach und kaum vernehmbar, so leise, als würden sie verklingen, bevor sie mein Ohr erreichten. Eine Welle, die am Strand versandet, noch ehe sie meine Füße umspült.
Ich horchte in die Stille, hörte aber nichts, vernahm den Gesang wieder, dann wieder nicht, hielt den Atem an und bewegte mich nicht, bis ich die Töne wieder hörte, nun etwas lauter. Laut genug, dass ich diese Spur nicht noch einmal verlieren würde. Es musste ein Chor von Kindern sein, die ohne Unterlass ein melodisches Mantra wiederholten.
»Sind das die Kinder aus dem Kloster?«, fragte ich.
»Aber nicht die aus dem Kloster im Dorf. Es gibt eines in den Bergen, und wenn der Wind günstig steht, erreicht uns der Gesang am Morgen. Sie hören, was Tin Win und Mi Mi gehört haben. Es hat vor fünfzig Jahren nicht anders geklungen.«
Ich schloss die Augen, ein Schauder überlief mich. Die Kinderstimmen schienen über meine Ohren in meinen Körper zu dringen und mich zu berühren, wo kein Wort, kein Gedanke und kein Mensch mich bisher berührt hatten.
Woher kam dieser Zauber? Ich verstand kein Wort von dem, was sie sangen. Was war es, das mich so bewegte? Warum rührt uns etwas zu Tränen, das wir nicht sehen, nicht fassen und nicht festhalten können, das, kaum erklungen, schon wieder verschwunden ist?
Musik, hatte mein Vater oft gesagt, sei der einzige Grund, warum er manchmal an einen Gott oder eine himmlische Macht glauben könne.
Jeden Abend, bevor er ins Bett ging, saß er im Wohnzimmer, mit geschlossenen Augen und Kopfhörer, und hörte Musik. Wie sonst soll meine Seele Ruhe finden für die Nacht, hatte er mir erklärt.
Ich konnte mich an kein Konzert, an keine Oper erinnern, in der er nicht geweint hätte. Die Tränen strömten ihm übers Gesicht wie Wasser aus einem See, der lautlos, aber mit Macht über seine Ufer tritt. Dabei lächelte er. Hatte ich ihn je glücklicher gesehen?
Einmal fragte ich ihn, was er auf eine einsame Insel mitnehmen würde, wenn er sich zwischen Musik und Büchern entscheiden müsste.
Musik natürlich, hatte er geantwortet. Ich hatte nie verstanden warum. Jetzt ahnte ich etwas.
Ich wünschte, der Gesang der Kinder möge nicht aufhören. Er sollte mich durch den Tag begleiten. Durch das Leben.
Hatte ich mich meinem Vater je so nah gefühlt? Vielleicht hatte U Ba Recht. Vielleicht war er in der Nähe, und ich musste ihn nur sehen.
DRITTER TEIL
1
I ch war ihnen auf der Spur. Ich hörte den Atem meines Vaters nur wenige Meter von mir entfernt. Er japste nach Luft. Er schleppte Mi Mi den Berg hoch. Sie war schwerer geworden, er älter. Das Tragen erschöpfte ihn. Ich hörte ihr Flüstern. Ihre Stimmen. Ein paar Schritte noch, und ich würde sie einholen.
Ich wollte das Haus sehen, in dem mein Vater seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Vielleicht versteckte er sich dort mit Mi Mi?
Ein paar Schritte noch.
U Ba zögerte, als ich ihn bat, mit mir dorthin zu gehen. Hatte mein Vater ihm das untersagt?
»Die Häuser sind in einem trostlosen Zustand. Sie brauchen viel Phantasie, um dort Spuren seiner Kindheit zu entdecken«, warnte er mich.
»Das macht nichts.«
»Su Kyi ist lange tot.«
»Das habe ich mir gedacht. Trotzdem.«
»Ich muss noch etwas erledigen. Wollen Sie schon vorgehen?«
»Wenn es sein muss.«
Er wies mir den Weg, sagte, dass er im Dorf noch etwas einkaufen wolle und nachkäme.
Ich lief über den Bergkamm. U Ba hatte ihn sehr genau beschrieben, den Pfad aus Lehm mit den tiefen Kuhlen und Rillen. Er war mir seltsam vertraut. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie mein Vater den Weg entlanggelaufen war. Ich erschrak über die vielen verschiedenen Geräusche, die ich plötzlich hörte. Vögel. Heuschrecken. Zikaden. Ein unangenehm lautes Fliegensummen, fernes Hundegebell. Meine Füße taten sich schwer mit den Löchern und Rissen in der Erde, ich stolperte, fiel aber nicht. Es roch nach Eukalyptus
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