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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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wollte? Hätte ich seinen Wunsch respektieren und in New York bleiben sollen? Würde er mich trotz allem in den Arm nehmen? Würde ich dieses Strahlen in seinen Augen sehen, das ich so vermisste? Ich war mir seiner Reaktion nicht sicher, und das verletzte mich. Warum zweifelte ich daran, dass er sich freuen würde, mich zu sehen?
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Mi Mi und Ihr Vater wohnen hier nicht.« Es war U Ba. Ich hatte ihn nicht kommen sehen.
    »U Ba, Sie haben mich erschreckt.«
    »Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht.«
    »Woher wussten Sie, dass ich daran gedacht habe?«
    »Woran sonst?«
    »Gäbe es für mich einen Grund zur Sorge, wenn Mi Mi und mein Vater in diesem Haus wären?«
    Er lächelte und neigte den Kopf zur Seite. Es war ein zärtlicher Blick, mit dem er mich anschaute, ein Blick, der mir Zutrauen gab. Ich wollte die Hand nach ihm ausstrecken. Er sollte mich an dem Geisterhaus vorbeiführen, nach Hause bringen. In Sicherheit.
    »Wovor fürchten Sie sich?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Es gäbe für Sie keinen Grund zur Sorge. Sie sind seine Tochter, warum zweifeln Sie an seiner Liebe?«
    »Er hat uns verlassen.«
    »Schließt das eine das andere aus?«
    »Ja!«, sagte ich. Die Stimme der Anklage.
    »Warum? Die Liebe kennt so viele unterschiedliche Formen, Julia, sie hat so viele eigenartige Gesichter, dass unsere Phantasie nicht ausreicht, sich alle vorzustellen. Die Kunst besteht darin, sie zu erkennen, wenn sie vor uns steht.«
    »Weshalb soll das so schwierig sein?«
    »Weil wir nur sehen, was uns bekannt ist. Wir trauen dem anderen immer nur zu, wozu wir selbst in der Lage sind, im Guten wie im Bösen. Deshalb erkennen wir als Liebe vor allem, was unserem Bild von ihr entspricht. Wir wollen geliebt werden, so wie wir selbst lieben. Jede andere Art ist uns unheimlich. Wir begegnen ihr mit Zweifel und Misstrauen, wir missdeuten ihre Zeichen, wir verstehen ihre Sprache nicht. Wir klagen an. Wir behaupten, der andere liebt uns nicht. Dabei liebt er uns vielleicht nur in einer, seiner Weise, die uns nicht vertraut ist. Sie werden, so hoffe ich, verstehen, was ich meine, wenn ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe.«
    Ich verstand nicht, was er meinte. Aber ich vertraute ihm.
    »Ich habe auf dem Markt Obst gekauft. Wenn Sie nichts dagegen haben, setzen wir uns unter den Avocadobaum, und ich erzähle weiter.« Er eilte mit seinen flinken Schritten voraus, hinüber zu den beiden jungen Frauen, die ihn offensichtlich gut kannten. Sie lachten zusammen, schauten zu mir herüber, nickten und standen auf. U Ba nahm die Holzbank unter den Arm und brachte sie zum Baum, in dessen Schatten ich auf ihn wartete.
    »Wenn ich mich nicht täusche, hat Ihr Großvater die gezimmert. Teakholz. Hält hundert Jahre, mindestens. Wir haben sie nur einmal ausbessern müssen.« Er holte eine Thermoskanne und zwei kleine Gläser aus einer Tüte und goss uns Tee ein.
    Ich schloss die Augen. Mein Vater war auf dem Weg nach Rangun, und ich ahnte, dass es eine schreckliche Reise werden würde.
    2
    S ich tot stellen. Nicht bewegen. Hoffen, dass die Zeit vergeht.
    Keinen Laut von sich geben. Essen und Trinken verweigern. Das Atmen auf wenige Stöße reduzieren. Hoffen, dass es nicht wahr ist.
    So hatte Tin Win die Reise nach Rangun überstanden. In den Zügen saß er zusammengekauert, nicht ansprechbar, als hätte er das Bewusstsein verloren. Die Fragen der beiden Männer ignorierte er, bis sie aufgaben und ihn in Ruhe ließen. Die Gespräche, die Herztöne seiner Mitreisenden, zogen so spurenlos an ihm vorbei wie die Nachtlandschaft an den Augen der anderen Passagiere.
    Die Stille im Haus des Onkels machte es ihm leichter. Er musste keine Züge wechseln und keine Fragen überhören. Er war allein. Reglos lag er auf einem Bett, die Beine gespreizt, die Arme weit von sich gestreckt.
    Sich tot stellen. Es gelang nicht immer.
    Er fing an zu weinen, es waren Krämpfe, die ihn überfielen, ein paar Minuten anhielten, langsam verebbten. Wie Wasser, das im Sand versickert.
    »Bitte«, sagte er halblaut, als säße im Zimmer jemand, der ihn erhören könnte, »bitte, mach, dass dies nicht wahr ist. Bitte, lass mich erwachen.« Er stellte sich vor, dass er auf seiner Matte in Kalaw lag und Su Kyi neben ihm schlief. Dass er liegen blieb, als sie aufstand. Ihr Gepolter in der Küche. Den herbsüßen Geruch von frischen Papayas. Er hörte Mi Mi vor sich sitzen und an einem Mangokern lutschen. Rangun war nichts als ein schlechter Traum.

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