Herzenhören
über die ersten zwanzig Jahre erzählt und uns damit auch nicht die Möglichkeit gegeben, mit ihm oder für ihn zu trauern. Aber hätte ich es wissen wollen? Wäre ich in der Lage gewesen, für ihn zu fühlen? Wollen Kinder ihre Väter und Mütter als unabhängige Menschen kennen? Können wir sie sehen, wie sie waren, bevor es uns gab?
Ich holte ein Tuch aus meinem Rucksack und trocknete mir das Gesicht.
»Haben Sie Hunger?«, fragte U Ba.
Ich schüttelte den Kopf.
»Durst?«
»Ja, ein wenig.«
Er verschwand in der Küche und kam mit einem Becher kalten Tee zurück. Er schmeckte nach Ingwer und Limone und tat gut.
»Sind Sie müde? Soll ich Sie zurück ins Hotel bringen?«
Ich war erschöpft, aber ich wollte nicht allein sein. Bei dem Gedanken an mein Zimmer fürchtete ich mich. In meiner Vorstellung erschien es mir noch größer als der leere Speisesaal, und mein Bett war breiter als die Wiese vor dem Hotel. Ich sah mich darin liegen, klein und verloren. »Ich würde mich gern etwas ausruhen. Könnte ich mich unter Umständen bei Ihnen für ein paar Minuten…?«
U Ba unterbrach mich: »Selbstverständlich, Julia. Legen Sie sich auf die Couch, ich bringe Ihnen eine Decke.«
Ich kam aus dem Sessel kaum heraus, so schwach war ich. Das Sofa war bequemer, als es aussah, ich kauerte mich auf die Kissen und spürte noch, wie U Ba eine leichte Decke über mich breitete. Fast sofort glitt ich in einen Halbschlaf. Ich hörte die Bienen. Ihr gleich bleibendes Summen beruhigte mich. U Ba lief durch den Raum. Hunde bellten. Ein Hahn krähte. Schweine grunzten. Der Speichel rann mir aus dem Mund.
Als ich wieder erwachte, war es dunkel und still. Es dauerte einige Sekunden, bis ich wusste, wo ich lag. Es war kühl. U Ba hatte eine zweite, dickere Decke auf mich gelegt und ein Kissen unter meinen Kopf geschoben. Auf dem Tisch vor mir standen ein Glas Tee, ein Teller mit Keksen und eine Vase mit frischen Jasminblüten. Es roch nach Kaffee und Zimtschnecken. Ich hörte eine schwere alte Holztür ins Schloss fallen, drehte mich zur Seite, zog die Knie ganz eng an den Körper, die Decken bis ans Kinn und schlief wieder ein.
21
E s war hell, als ich die Augen öffnete. Vor mir stand ein Glas Wasser, aus dem heißer Dampf aufstieg. Daneben lagen eine Tüte Nescafé, ein Stück Würfelzucker, Dosenmilch und frische Kekse. Durch eines der beiden Fenster fielen Sonnenstrahlen, und vom Sofa aus konnte ich ein Stück Himmel sehen. Sein Blau war dunkler und kräftiger als das, wie ich es aus New York kannte. Es roch nach Morgen, und ich musste plötzlich an unsere Sommerwochenenden in den Hamptons denken, wenn ich als Kind frühmorgens wach im Bett lag, durch die offenen Fenster das Meer rauschen hörte, die kühle Luft im Zimmer roch, in der trotz der Kälte schon die Hitze des Tages zu ahnen war.
Ich stand auf und streckte mich. Erstaunlicherweise hatte ich keine Rückenschmerzen wie sonst, wenn ich in einem fremden Bett übernachtete. Ich musste gut geschlafen haben auf dem alten Sofa mit seinen verschlissenen Bezügen. Ich ging zu einem der Fenster. Eine dichte Bougainvilleahecke wuchs um das Haus. Der Hof war sauber gefegt, zwischen zwei Bäumen lag sorgfältig gestapeltes Feuerholz, daneben ein Haufen Reisig. Ein Hund, dessen Rasse ich nicht kannte, streunte umher, unter mir wühlte das Schwein. Wo war U Ba?
Ich ging in die Küche. In einer Ecke kokelte ein kleines Feuer, darüber hing ein Kessel. Der Rauch zog senkrecht nach oben und verschwand in einem Loch im Dach. Trotzdem brannten mir die Augen. An der Wand stand ein offener Schrank mit ein paar weiß emaillierten Blechnäpfen und Tellern, Gläsern und verrußten Töpfen. Im untersten Regal lagen Eier, Tomaten, ein großes Bund Frühlingszwiebeln, eine Ingwerwurzel und Limonen.
»Julia?« Seine Stimme kam aus dem nächsten Zimmer.
U Ba saß an einem Tisch, umgeben von Büchern. Der ganze Raum war voll davon, er glich einer aus den Fugen geratenen Bibliothek. Sie standen in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, sie lagen in Stapeln auf den Holzbohlen und in einem Sessel und türmten sich auf einem zweiten Tisch. Manche waren fingerdünn, andere hatten den Umfang von Lexikas. Es waren Taschenbücher darunter, aber die meisten hatten einen festen Einband, manche sogar in Leder. U Ba beugte sich über ein aufgeschlagenes Buch, dessen vergilbte Seiten aussahen wie eine Lochkarte. Daneben lagen verschiedene Pinzetten, Scheren, ein Gefäß mit weißem zähen
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