Herzenhören
und Jasmin. Ein Ochsenkarren überholte mich, die Tiere sahen in der Tat jämmerlich aus. Die Haut klebte an ihren Rippen, und ihre Augen stachen aus dem Schädel, als würden sie vor Anstrengung gleich platzen.
Hinter der Kuppe sah ich das Haus. Wollte ich dort wirklich hin? Meine Schritte wurden langsamer. Ich stand an der Gartenpforte, mutlos und eingeschüchtert. Zu ängstlich, um das Grundstück zu betreten.
Das Tor war aus dem unteren Scharnier gebrochen und hing schief. Aus den Rissen in den gemauerten Pfeilern wuchs Gras. Der Holzzaun war von Büschen überwuchert, jede zweite oder dritte Latte fehlte. Das Gras auf der Wiese war graubraun, von der Sonne verbrannt. Das vordere Haus, eine gelbe, zweistöckige Villa im Tudorstil, wies im ersten Stock eine große Veranda auf, von der man einen Blick über das Dorf und die Berge haben musste. Ihre Stützpfeiler, der Dachsims und die Fensterrahmen waren mit Holzschnitzereien dekoriert. Es gab einen Wintergarten und mehrere Erker. Aus dem Schornstein wuchs ein Baum. Da an mehreren Stellen Dachziegel fehlten, lag das dünne Gebälk des Dachstuhls teilweise frei. Die Verandabrüstung hatte etwa die Hälfte ihrer Gitterstäbe eingebüßt, und der Regen hatte die Farbe der Fassade ausgebleicht. Ein Teil der Fenster war eingeschlagen.
Leer stehende Häuser deprimierten mich selbst in New York. Als Kind hatte ich jedes Mal die Straßenseite gewechselt, wenn ich an einem vorbeikam. Geisterhäuser nannte ich sie. Ich war überzeugt, dass hinter ihren zugenagelten Fenstern Gespenster lebten, die nur auf mich warteten. Im Beisein meines Vaters traute ich mich an ihnen vorbei, aber auch nur an seiner der Straße zugewandten Hand.
Diese Villa war mir ähnlich unheimlich. Warum kümmerte sich niemand darum? Der einstige Glanz war noch gut zu erkennen, es hätte nicht vieler Mühe bedurft, sie zu pflegen. Hätte.
Was wäre gewesen, wenn? Was lauerte darin? Gespenster? Zwei ungelebte Leben?
Etwas unterhalb des Hauses lag die Hütte, in der Su Kyi und mein Vater gewohnt haben müssen. Sie war kleiner als unser Wohnzimmer in New York. Ich konnte keine Fenster sehen, nur einen Türrahmen ohne Tür. Das braune Wellblechdach war vom Rost zerfressen, und der Lehm bröckelte aus den Wänden. Ich entdeckte die Feuerstelle, einen Reisighaufen und die Holzbank. Zwei junge Frauen saßen darauf mit Säuglingen auf dem Schoß. Sie blickten mich an und lächelten dieses Wie-schön-dass-du-da-bist-Lächeln, das mich jedes Mal von neuem irritierte. Neben der Hütte hingen vier Longys in der Sonne. Zwei junge Hunde streunten über den Hof, ein dritter krümmte den Rücken und kackte. Er sah mich leidend an.
Ich atmete zweimal tief ein und trat durch die Pforte. Vor mir auf der Wiese entdeckte ich den Baumstumpf. Es muss eine sehr alte und große Pinie gewesen sein. Über die dicke Borke liefen Ameisen, das Holz war an mehreren Stellen weich und zerfressen, aber der Kern war auch nach so vielen Jahren noch kräftig. Ich konnte ohne Mühe hinaufklettern. Er war feucht und hart. Den Blick ins Tal verstellten mehrere große Büsche. Ich wusste jetzt, warum ich diesen Ort unbedingt sehen wollte und ihn gleichzeitig gefürchtet hatte. Er war der Schlüssel zu U Bas Erzählung. Seit ich heute Morgen die Kinder im Kloster singen hörte, war seine Geschichte kein Märchen mehr. Sie klang in meinen Ohren, ich konnte sie riechen und mit den Händen greifen. Ich saß auf dem Baumstumpf, auf dem mein Vater vergeblich auf seine Mutter, meine Großmutter, gewartet hatte. Auf dem er sich fast zu Tode gehungert hatte. In diesem Garten verlor er sein Augenlicht, und er lebte in diesem seltsamen Dorf, in dem sich in den vergangenen fünfzig Jahren offensichtlich kaum etwas geändert hatte. Er und Mi Mi. U Ba war dabei, mich zu ihnen zu führen. Ich hörte ihr Flüstern. Ihre Stimmen. Ein paar Schritte noch.
Was wäre, wenn sie im nächsten Moment vor mir stünden? Panik überfiel mich. Vielleicht verbargen sich Mi Mi und mein Vater in dieser verfallenen Villa? Hatten sie mich bereits durchs Fenster erspäht? Würden sie sich verstecken, vor mir weglaufen oder aus dem Haus kommen und auf mich zugehen? Was sollte ich sagen? Hallo Papa? Warum hast du uns verlassen? Warum hast du mir nie etwas von Mi Mi erzählt? Ich hatte Sehnsucht nach dir?
Wie würde er reagieren? Würde er mir böse sein, dass ich mich auf die Suche nach ihm gemacht habe und ihn fand, obwohl er doch offensichtlich spurlos verschwinden
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