Herzenhören
Gefühl, neben einem Kind zu sitzen, so sehr strotzte er vor Freude und Energie. Als wollte er nachholen, was er all die Jahre über versäumt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich in einer fremden Umgebung ohne Mi Mis Hilfe zurechtfinden würde. Eine solche Symbiose zweier Menschen hatte sie noch nie erlebt, und es gab Augenblicke, da dachte sie beim Anblick der beiden, ob am Ende der Mensch vielleicht doch nicht allein ist, ob die kleinste menschliche Einheit vielleicht doch Zwei ist und nicht Eins. Warum mussten die beiden jetzt auseinander gerissen werden? Vielleicht, so hoffte sie, hatte der Onkel wirklich nur das Beste für seinen Neffen im Sinn. Vielleicht können die Ärzte in der Hauptstadt ihn heilen. Vielleicht würde er in ein paar Monaten zurückkehren.
Sie trat aus dem Haus und sah ihm ins Gesicht. Und obwohl sie schon einige Menschen hatte sterben sehen und Angehörige, die deshalb trauerten, konnte sie sich nicht erinnern, jemals ein Gesicht gesehen zu haben, das so voller Schmerz und Verzweiflung war. Sie nahm ihn in den Arm. Er weinte, untröstlich. Er weinte, bis die beiden Männer durch das Gartentor traten. Sie wischte ihm die Tränen ab und fragte, ob sie die drei zum Bahnhof begleiten dürfe. Selbstverständlich, sagte einer der Männer. Der andere nahm die Tasche.
Den ganzen Weg über sprachen sie kein Wort. Sie hatte Tin Wins Hand genommen. Er zitterte, sein Gang war unsicher und unbeholfen. Ängstlich tastete er sich voran, mehr stolpernd als gehend. Als wäre er erst vor kurzem erblindet. Su Kyis Beine wurden mit jedem Schritt schwerer, sie verfiel in eine Art Trance und nahm ihre Umwelt nur noch bruchstückhaft wahr. Sie hörte das Keuchen der Lokomotive, die bereits im Bahnhof wartete. Sie sah weiße Wolken aus einem schwarzen Krater aufsteigen. Es wimmelte von Menschen, die ihr in die Ohren brüllten. Ein Kind schrie. Eine Frau stürzte. Tomaten rollten auf die Gleise. Tin Wins Finger glitten ihr aus der Hand. Die Männer führten ihn fort. Er verschwand in einer Tür.
Das letzte Bild verschwamm in einem Schleier aus Tränen. Tin Win saß am offenen Fenster, den Kopf in den Händen vergraben. Sie rief seinen Namen, aber er reagierte nicht. Mit einem schrillen Pfeifton setzte sich die Lok in Bewegung. Su Kyi ging neben dem Fenster her. Der Zug wurde schneller, das Keuchen lauter und heftiger. Sie begann zu laufen. Stolperte. Rempelte einen Mann um, sprang über einen Korb mit Früchten. Dann war der Bahnsteig zu Ende. Die zwei roten Rücklichter leuchteten wie Tigeraugen in der Nacht. Langsam verschwanden sie hinter einer lang gestreckten Kurve. Als Su Kyi sich umdrehte, war der Bahnsteig leer.
20
U Ba hatte stundenlang und ohne Pause erzählt. Sein Mund stand halb offen, seine Augen blickten an mir vorbei. Er rührte sich nicht, nur seine Brust bewegte sich gleichmäßig. Ich hörte meinen eigenen Atem und die Bienen. Meine Hände hielten die Armlehnen des Sessels umklammert. So angespannt saß ich sonst in Flugzeugen, wenn sie in Turbulenzen gerieten oder zur Landung ansetzten. Ich ließ langsam los und versank in den weichen Kissen hinter mir.
Je länger wir schwiegen, desto mehr füllte sich das Haus mit verstörenden Geräuschen. Es knackte im Holz, es knisterte zu meinen Füßen. Unter der Decke gurrte etwas. Irgendwo spielte der Wind mit einem Fensterladen. In der Küche tropfte ein Wasserhahn. Oder bildete ich mir ein, U Bas Herz schlagen zu hören?
Ich versuchte mir meinen Vater vorzustellen. Die Einsamkeit, in der er gelebt hatte, seine Bedürftigkeit, die Dunkelheit, die ihn umgeben hatte, bis er Mi Mi traf. Wie musste er sich gefühlt haben bei dem Gedanken, dass er all das, was er sich mit Mi Mis Hilfe erobert hatte, wieder verlieren könnte. Ich merkte, wie mir die Tränen kamen. Ich wollte sie unterdrücken, aber das machte alles nur noch schlimmer. Ich weinte, als hätte ich ihn eben selber zum Zug nach Rangun gebracht. U Ba stand auf und kam zu mir. Er legte eine Hand auf meinen Kopf. Ich konnte mich nicht beruhigen. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich um meinen Vater wirklich weinte. Es gab Tage nach seinem Verschwinden, da vermisste ich ihn sehr, war niedergeschlagen und verzweifelt. Vermutlich habe ich auch geweint, genau erinnere ich mich nicht. Aber um wen ging es da? Um ihn? Um mich, weil ich meinen Vater verloren hatte? Oder waren es Tränen der Wut und Enttäuschung, weil er uns hatte sitzen lassen?
Sicher, er hatte uns nie etwas
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