Herzensach - Roman
stehen und rieb sich das Kinn. »Ich will Ihnen was sagen: Kein Fremder bleibt in diesem Dorf freiwillig. Die Dorfbewohner tun alles, um jeden abzuschrecken. Und alles, was ich Ihrer verworrenen Rede entnehme, ist, man hat es auch bei Ihnen getan. Warum sind Sie noch hier? Was meinen Sie, warum es in Herzensach nicht den geringsten Tourismus gibt? Wissen Sie, daß in der ganzen Gegend kein Bauer Feriengäste aufnimmt, wie es sonst überall in den Nachbargemeinden üblich ist? Seit zweihundert Jahren ist niemand mehr in dieses Dorf gezogen. Und wenn doch, dann hat man ihn umgebracht.« Er unterbrach sich selbst durch ein kurzes Lachen. »Man muß den Pastor und den Arzt natürlich ausnehmen, obwohl ... selbst die sterben hier normalerweise nicht eines natürlichen Todes. Nein, noch nie ist hier ein Fremder länger als eine Nacht geblieben, aber Sie sind noch hier. Sie müssen einen Grund haben, sich nicht verscheuchen zu lassen. Und ich will ihn wissen.«
Jakob hob seinen Oberkörper, soweit es möglich war. »Binden Sie mich los!«
Der Schlachter schüttelte den Kopf. »Ich denke lieber darüber nach, wie ich Sie quälen kann.«
Jakob überlegte, was er über Wilhelm Weber wußte. Es war nicht viel. Die Mutter des Wirts hatte ihn mit Klatsch versorgt.
»Und warum sind Sie noch hier?« sagte Jakob. »Sie sind doch auch ein Fremder, wenn ich recht informiert bin?«
»Aha! Informiert ist er!« Wilhelm Weber lächelte grimmig, dann zog er das Oberteil seines Trainingsanzuges langsam über den Kopf. Er war nackt darunter. Und es war eine Drohung. »Sie haben recht, ich bin ein Fremder, und wäre ich es nicht, wären Sie kaum in dieser Lage. Ich werde hier als Bündnispartner auf Zeit geduldet. Als Fleischlieferant. Als Geldgeber.« (Er verkniff sich: als Clown. Als Arsch. Als gehörnter Ehemann.) »Ich habe also gewisse Pflichten zu erfüllen. So wie jetzt an Ihnen!«
Weber zog seine Hose aus und drehte sich zu einem Wandspiegel um. »Ich habe die Pflicht, aus Ihnen die Wahrheit herauszubekommen. Sehen Sie sich meine Muskeln an. Ich werde es buchstäblich aus Ihnen herauspressen, woher Sie kommen. Damit Sie auch korrekt gestehen können, sage ich Ihnen vorher, was Sie zu sagen haben: Ich bin ein Nachfahre der Grafen Weinstein, und ich bin hierhergekommen, um meine Ansprüche auf Herzensach anzumelden. Das ist alles. Sie brauchen also nur diesen Satz zu wiederholen, und ich beende die Prozedur. Sagen Sie mir vorher Bescheid, wenn Sie gestehen wollen, damit ich einen Zeugen dazuholen kann.«
Wilhelm Weber zog nun auch seine Unterhose aus und griff nach einer Ölflasche, die vor dem Spiegel stand. Jakob dachte, daß der glatte, durchtrainierte Körper eigentlich nicht zu dem faltigen Gesicht des etwa Fünfzigjährigen paßte. (Nur der schimmelgraue Hodensack machte eine Ausnahme.)
»Aber das ist alles kompletter Unsinn«, protestierte er, »ich kann das nicht gestehen, weil ich es nicht bin.«
»Das ist mir egal. Ich tue nur meine Pflicht und habe Ihnen einen Weg gezeigt, wie Sie sich meine Behandlung ersparen können.«
»Aber was nützt Ihnen das?«
»Ich habe dann getan, was man von mir erwartet.«
Weber hatte sich vor ihm aufgebaut, an seinem Geschlecht gezupft, seine Brusthaare glattgestrichen und ein Stirnband über den Kopf gezogen. »Es ist mir vollkommen egal, wer Sie wirklich sind.«
»Aber wer ist es, der das von Ihnen erwartet. Der Gutsherr?«
Weber antwortete nicht. Er begann langsam und gründlich von den Füßen her seinen muskulösen Körper einzuölen, nicht ohne dabei den Studenten immer wieder zu fixieren.
Jakob sah ihm zu. »Da Sie mir Ihren Auftraggeber nicht nennen, nehme ich an, Sie wollen mich wenigstens am Leben lassen.« (So wie im Kino!)
Der Schlachter arbeitete schweigend an seinem Körper. Jakob bemerkte, wie die Nacktheit eines Menschen, das Symbol für seine Schutzlosigkeit, seine Verletzlichkeit, seine Unterwerfung und seine Friedfertigkeit, eine vollkommen gegenteilige Bedeutung bekommen konnte. Der Mann demonstrierte seine Gewaltbereitschaft. Der süßliche Geruch des Öls erreichte ihn. Weber hatte sich bis zum Schritt eingeölt (sein Hodensack bekam ein Gesicht), richtete sich auf und behandelte ausführlich sein im Gegensatz zu den üppig sprießenden Brusthaaren rasiertes Geschlecht. Vielleicht war es auch die Diskrepanz zwischen dem jugendlichen Rumpf und dem alten Gesicht, die den Studenten beunruhigte. Niemals zuvor hatte er den Körper eines Menschen als so bedrohlich
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