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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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im Lichtschacht, an deren Ende, unten in der Halle, die große gußeiserne Lampe hing. Sie waren plötzlich nicht mehr da. Sollte alles lautlos verschwinden, sich vor ihren Augen auflösen? In ihrer Vorstellung war das Auseinanderbrechen mit Lärm und Geschrei verbunden. Oder begann auch der Mensch zu zerbrechen? Funktionierten die Sinne nicht mehr, weil sich Empfindung von Erfahrung trennte? War die Lampe schon gefallen, das Haus am Einstürzen, ohne daß sie es bemerkt hatte? War ihr Gehör nicht mehr in der Lage, Geräusche zu erkennen? Sie wollte die Hände vor das Gesicht schlagen, aber im selben Moment waren die Seile der Lampe wieder da. Sie brauchte nur den Kopf ein wenig zu neigen, und ganze Teile des Treppengeländers verschwanden. Hob sie den Kopf, stand alles wieder am Platz. Sie stöhnte. Es war soweit: Die Dinge spalteten sich. Die Wirklichkeit begann sich aufzulösen. Jetzt begriff sie, daß es damals in Babylon genauso gewesen sein mußte. Die Menschen verloren den Bezug zur Realität. Immer hatte sie erwartet, daß es so beginnen würde, daß man sie eines Tages ansprach, aber sie nicht mehr verstand, was man von ihr verlangte, daß sie die Worte und Gesten nicht mehr begriff. Im Traum war es schon manchmal geschehen. Und auch vorhin, als der Partner des Gutsherrn, dieser Gustav Anderson, aus Berlin anrief, hatte sie es erlebt. Jan war mit Katharina nach Weinstein gefahren, und Anderson versuchte ihr zu erklären, worum es ging. Aber sie verstand es nicht, bejahte nur mechanisch, weil sie spürte, er erwartete es. Ein Schiff sei untergegangen, hatte er lachend gesagt. Die »Kala Wang« aus Jakarta. Ein Schiff des Gutsherrn. Wieso hatte er sich darüber gefreut? Man lachte nicht, wenn ein Schiff verlorenging. Oder tat man das doch? Sie hatte es plötzlich nicht mehr gewußt. Sie hatte gesagt, sie würde es ausrichten, und hatte dabei auch ein bißchen gelacht, weil man das wohl tun mußte, wenn ein Schiff untergegangen war. Doch da hatte Anderson verstimmt reagiert, nur knapp ein Fax angekündigt und aufgelegt.
    In Babylon mußte es ähnlich begonnen haben. Man verstand einander nicht mehr. Zuerst lösten sich Gesten und Worte voneinander. Und schließlich erkannten die Menschen einander nicht mehr. Jeder wurde jedermanns Feind.
    Schon seit einer Woche bemerkte sie die Veränderungen. Seit sie das Gespräch zwischen dem Gutsherrn und einer Frau in seinem Schlafzimmer belauscht hatte. Nichts paßte mehr zueinander. Das war nicht der Jan, den sie kannte, aber es war seine Stimme. Da hatte er seine Hochzeit mit Katharina angekündigt, aber die Heirat war nur ein Vorwand, um ihr das Geld wieder wegzunehmen, das er ihr geben wollte. Sie hatte das nicht verstanden, sosehr sie sich auch bemühte. Jetzt schien er Katharina wirklich heiraten zu wollen ... aber das war wohl kaum noch die Wirklichkeit. Alles geschah nur in ihrem Kopf. Jeder Mensch wurde zu einer Insel. Unerreichbar für den anderen. Bei ihr ging es schneller, weil sie um die Dinge wußte, die geschahen. Sie war froh, daß sie Katharina nicht danach gefragt hatte. Es war nur ihre Phantasie. Denn wer war Katharina? Ein Findelkind, keine Mutter, keinen Vater! Woher kam sie? Niemand aus dem Dorf würde ein solches Mädchen heiraten, nicht in Herzensach. Niemand würde hier ein Mädchen zur Frau nehmen, von dem man nichts wußte, schon gar nicht ein van Grunten. Wie gut, daß sie nicht gefragt hatte, Katharina hätte sie wahrscheinlich verständnislos angeguckt oder für verrückt erklärt. Denn sie wußte noch nicht, was mit der Welt geschah.
    Manuela Kotschik setzte sich auf die Treppenstufen. Sie schloß die Augen und umklammerte ihren Oberkörper mit den Armen. Und wenn es gar nicht mit der ganzen Welt, sondern nur mit ihr geschah? Begann so der Wahnsinn? Wurde sie geisteskrank? Würde man sie fesseln müssen und schreiend abtransportieren? Nein, eher würde sie sich vom Dach des Gutshauses stürzen, als sich in eine Irrenanstalt bringen lassen. Sie suchte mit den Händen Halt am Haus. Sie umklammerte die hölzerne Stufe, auf der sie saß. Sie würde sich gegen den Wahnsinn wehren. Sie brauchte ein Ziel, das Aktivität von ihr verlangte. Jenes praktische Denken ergriff sie wieder, mit dem sie ihre tägliche Arbeit verrichtete. Damit gelang es ihr immer, die Gedanken über die Wahrheit zu unterdrücken. Sie war geübt im Erfinden sogenannter rationaler Begründungen für alle Erscheinungen.
    Das Haus vibrierte nicht mehr. Sie öffnete die Augen,

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