Herzensach - Roman
hervor.
(Die Farbe Blau:) Sie betrachtete sich im Spiegel. Die schwarzen Ohren gefielen ihr, und sie probierte einen dünnen Schrei dazu. (Maigrün.) Es paßte zusammen. Jetzt kam das Blau aus der Spraydose. Ein schönes Blau, nicht so wie der Himmel. Ein Blau, das aus der Erde kam. Sie verwendete es für Streifen auf ihren Bauch und für die Pobacken. Doch dann fiel ihr ein, daß es eine wunderbare Grundierung sei, und sie besprühte ihrem gesamten Rumpf damit. Es dauerte lange, bis es trocken genug war, um wieder mit schwarzer Schuhcreme und flüssiger Silberbronze aus einer kleinen Dose und einem alten Lippenstift darauf zu arbeiten. Der Lippenstift war schnell alle. Gelb wäre gut gewesen, aber sie hatte keines. Es ging auch so.
Nach und nach geschah, was sie vorausgesehen hatte. Es war im Spiegel genau zu beobachten: Ihr Körper wurde langsam unsichtbar. Bald schwebten Kopf, Arme und Beine wie zusammenhanglos im Raum, und wenn sie deren Treiben zu lange zusah, konnte sie die Bewegungen kaum noch koordinieren. Aber das war gut, wenn die Glieder nicht mehr perfekt gehorchten, gute Gehilfen mußten eigenständig handeln können. Sie brauchten keine Bemalung. Wenn alles gutging, färbten sie sich mit dem Blut ihrer Opfer.
Sie konzentrierte sich auf die Veränderung ihres Gesichtes. Ihr Bruder hatte ihr gesagt, sie sei hübsch, und war zu ihr ins Bett gekommen. Sie hatte ihm dafür in die Hand gestochen. Sie ging nie ohne Messer ins Bett. Am Morgen war nicht nur sein Blut auf dem Bettlaken gewesen, sondern auch ihres. Zum ersten Mal. Die Mutter hatte sich gefreut und sie in den Arm genommen. Gutes Blut war immer ein Grund, sich zu freuen.
Für die Stirn kam nur Silber in Frage. Die restlichen Partien hatten keine Vorlieben. Jede Farbe kam dran, alle ordneten sich zu einem Vorhang aus gewundenen Linien, die an tote Schlangen erinnerten und hinter denen sie hervorschaute. Niemand konnte sie erkennen. Alles würde gelingen.
Sie ging in die Küche, suchte sich ein großes Messer aus und befestigte es mit Klebeband auf ihrem Oberschenkel. Sie war bereit.
Sie verriegelte die Vordertür und verließ über das Wohnzimmer den Bungalow. Sie ging die Auffahrt hinunter und bemerkte plötzlich, daß die blaue Farbe an einigen Stellen rissig wurde, ein wenig abblätterte. Darunter konnte man sie erkennen, und die Dämmerung kam zu langsam, um sie zu verbergen. Sie würde sich beeilen müssen. Doch je schneller sie ging, um so mehr kleine blaue Flocken fielen von ihrem Körper. Wie hatte sie nur erwarten können, unbegrenzt Zeit für ihre Aufgabe zu haben? Sie erreichte das Haus des Tischlers, kletterte geschickt am Regenrohr hinauf. Jetzt kam ihr ein Spiel zugute, das sie mit ihrem Vater schon als kleines Mädchen gemacht hatte. Sie waren durch das Dorf gegangen, und bei jedem Haus mußte sie ihm sagen, wie sie unbemerkt hineinkäme. Für jede richtige Antwort hatte sie ein Geldstück erhalten.
Bei ihrer Klettertour blickte sie in die Küche der Timbers, doch niemand war zu sehen. Auf dem Dach schaute sie in die Wohnung des Großvaters. Er sah sie an, lachte und winkte ihr mit beiden Händen zu. Sie wußte, er war der einzige, der sie trotz der Bemalung erkennen konnte. Aber er würde sie nicht verraten. Lisa erhob sich und balancierte auf dem Dachfirst vom Wohnhaus zur Werkstatt, bis sie oberhalb der Dachfenster stand, die zur Wohnung des Studenten gehörten. Sie kletterte auf allen vieren über die Ziegel. Eines der Fenster war zum Lüften einen Spaltbreit geöffnet. Sie zog es ganz auf. Doch als sie sich hineinschwang, löste sich ein Dachziegel, rutschte bis zur Kante und stürzte über die Regenrinne hinunter, fiel am Bürofenster vorbei.
Petra Timber nahm den Schatten am Fenster wahr, brachte ihn aber nicht mit dem scheppernden Geräusch in Verbindung, das gleich darauf folgte. Die Frau des Tischlers hob den Kopf, stand ganz still. Sie hatte den abgeschnittenen Daumen ihres Mannes in den Sägespänen der Werkstatt nicht gefunden. Jetzt wurde ihr bewußt, wie unsinnig es war, ihn in der Ablage des Büros zu suchen. Sie ließ den Ordner mit der Aufschrift »D F« fallen. Überhaupt, war die Zeit nicht längst abgelaufen, in der die Ärzte das Glied wieder annähen konnten? Minutenlang stand sie still und wußte nicht mehr, wo sie noch suchen sollte. Dann kam das zweite seltsame Geräusch. Es war, als wäre in der Wohnung über ihr ein Schrank umgefallen. Sie holte den Ersatzschlüssel aus der Schreibtischschublade und
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