Herzensach - Roman
beobachtete sie, wie er sich notdürftig abklopfte und Sand auf den Marmorboden rieselte.
»Ist Jan ... ich muß ihn sofort sprechen!«
»Er hat Besuch.« Ihr Blick blieb an seinen lehmigen Schuhen haften.
Dem Pfarrer wurde ungemütlich. »Es ist schon gut. Ich gehe noch einmal raus, mache mich sauber und komme wieder herein. Bitte informieren Sie inzwischen den Gutsherrn.«
»Es ist eine gute Idee, daß Sie hinausgehen wollen. Aber wollen Sie wirklich noch mal hereinkommen? Er hat Besuch!« Sie zog den Mund gespielt zu einem breiten, hilflosen Grinsen.
»Aber ... es ist wichtig!« Der Pastor registrierte die ungewohnte Aufsässigkeit der Haushälterin. Charakterveränderungen. Wieder so ein Zeichen!
Die Tür zur Bibliothek öffnete sich, und Jan blickte in die Halle. »Ein Besuch um diese Zeit? Es muß etwas Wichtiges sein.« Er öffnete die Tür ganz und kam mit ausgestreckter Hand auf den Pfarrer zu. »Mein lieber Pedus, Sie sind willkommen, zumal Ihnen die Sorgen so deutlich ins Gesicht – und auf die Kleidung – geschrieben stehen.« Er winkte der Haushälterin generös mit der flachen Hand, ein Zeichen, daß er sich allein um den Gast kümmern werde.
»Kommen Sie herein.« Rudolf Pedus ließ sich von dem Darsteller des Gutsherrn in die Bibliothek führen. Theater. Ärgerlich registrierte er, wie er in Gedanken auf den Ton des Gutsherrn einging. Nein, er wollte sachlich, extrem nüchtern erscheinen.
»Ich habe Ihnen immer wieder von meinen Statistiken erzählt, die ich seit ...« Er hielt inne. Erstens war es ein ungeschickter Anfang, und zweitens bemerkte er erst jetzt Katharina. Er entschuldigte sich und gab ihr die Hand.
»Ihre Statistiken, mein lieber Pedus? Laut Statistik trinken Sie Rotwein?« fragte der Gutsherr.
Was hatte Katharina um diese Zeit im Gutshaus zu schaffen? Rudolf Pedus betrachtete sie. Sie war ungewöhnlich gekleidet. War sie geschminkt? Der Gutsherr schwenkte die Flasche vor seinem Gesicht.
»Danke. Heute nicht. Mir geht es nur darum, etwas loszuwerden, das auf gefährliche Weise kumuliert.« (Oje, was war das für eine dumme Ausdrucksweise?)
»Ihre Statistiken.« Jan wies auf einen Sessel.
»Ja ... ich ...« Der Gutsherr wollte ihn offensichtlich aus dem Konzept bringen.
»Ihre Statistiken sollten Ihnen sagen, daß dies Ihr Lieblingsplatz ist, da Sie ihn bisher – ich schätze einmal – mit einer Wahrscheinlichkeit von achtundneunzig Prozent eingenommen haben.«
Rudolf Pedus spürte Jans Ironie und seinen wachsenden Ärger darüber. Das war die Strafe, wenn man ohne Entschuldigung in eine Gesellschaft hereinplatzte. Er würde genauso reagieren. Noch einmal kam ihm die Frage, was sein Findelkind und Jan miteinander zu tun hatten. Er verschob sie auf später. Er setzte sich und wartete, bis er beider Aufmerksamkeit hatte. Da Katharina noch nichts von seinen Untersuchungen wußte, begann er ganz vorn. Er erzählte, wie er vom ersten Tag seines Aufenthaltes in Herzensach an alle möglichen Daten gesammelt hatte. Wie er auf den Gedanken gekommen war, über die üblichen meteorologischen Messungen hinauszugehen, um ganz andere Zusammenhänge zu ermitteln. Unter anderem verzeichnete er täglich den Wasserstand, die Temperatur und Strömungsgeschwindigkeit der Herzensach, die elektrische Leitfähigkeit der Luft und ihren Stickstoffgehalt; er notierte alle drei Tage das Wachstum der üblichen Getreidesorten sowie die wöchentliche Menge des Brotverkaufs in der Bäckerei, täglich die Zahl der Gäste im Gasthof nach zwanzig Uhr und, mittels zweier Bewegungsmelder, alle Autos, die durchs Dorf fuhren, sowie alle Fußgänger, die an der Kirche vorbeigingen. Ein Meßgerät auf dem Dach des Pfarrhauses lieferte Daten über die täglichen Helligkeitsschwankungen, ein anderes ermittelte die Veränderungen des magnetischen Nordpols. Er führte auch Buch über die Zahl der Ratsuchenden bei ihm, über die der Patienten in der Sprechstunde des Arztes, über die tägliche Stimmung und Aktivität von sechs Testpersonen, Population der Blutegel im Dorfteich und natürlich über Hochzeiten und Geburten, Unfälle und Sterbefälle. Alle Daten wurden auf ein gemeinsames Kurvendiagramm übertragen, so daß über die Jahre hinweg alles in Beziehung zueinander gesetzt werden konnte. Dadurch konnte der Pastor nicht nur scheinbar so selbstverständliche Aussagen machen wie etwa die, daß der Brotverbrauch in Abhängigkeit zur Temperatur stand, sondern auch so ungewöhnliche wie die, daß sich bei
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