Herzensach - Roman
Angst kindisch vor. Er litt unter Verfolgungswahn! Welchen Grund sollten die Herzensacher haben, ihm etwas anzutun? Er war doch in der Lage, alle Mißverständnisse aufzuklären. Und mit ein paar Betrunkenen würde er noch fertig. Mindestens konnte er sich ihnen entziehen. So unsportlich war er nicht. Ein Geräusch im Haus. Jemand kam in die Küche. Jakob drückte sich an die Seite des Fensters. Es war eine alte Frau in einem langen weißen, altmodischen Nachthemd. Er hatte sie noch nie gesehen. Vielleicht die Mutter oder eine Haushälterin. Sie hob das Nachthemd, kratzte sich an dem nackten und glatten Bauch und ging zum Kühlschrank, öffnete ihn, nahm eine Flasche Saft heraus und setzte die Flasche direkt an die Lippen. Langsam nahm sie den Kopf zurück und trank. Plötzlich zuckte sie, begann zu husten, und der rote Saft lief ihr über das Kinn, tropfte auf das Nachthemd. Sie stellte die Flasche weg und wankte fluchend zur Spüle unter dem Fenster. Jakob zog den Kopf ein und drehte sich ab. Er ging zur anderen Seite des Gartens. Der Jägerzaun war hier niedriger. Er wollte gerade hinübersteigen, als er eine flüsternde Stimme hörte. Dann entdeckte er die beiden auf dem Boden sitzenden Gestalten, eine davon lehnte am Zaun. Beide hatten ihre Hände in der Hose des anderen. Alle gerade unterdrückten Ängste waren wieder da. Das waren Wachtposten. Er floh zurück, klopfte gegen die Hintertür und drückte die Klinke nieder. Die Tür war offen. Er ging hinein und zog sie leise hinter sich zu, lehnte sich gegen die Wand und beruhigte sich. Es gab überhaupt keinen Grund, Ängste zu entwickeln oder in Panik zu verfallen. Es war ein schwules Pärchen gewesen, das sich versteckt hatte. Mit einer Atemübung brachte er sich unter Kontrolle. Dann sah er sich um. Er befand sich in einem nüchternen Gang mit blanken Holzdielen. Jeder Schritt konnte sie zum Knarren bringen. Der schmale Flur führte auf eine Treppe zu. Jakob konnte hier reglos warten, bis sich draußen alles beruhigt hatte. (Doch Angst?) Er ging bis zur Treppe und lauschte ins Haus hinein. Alles war ruhig. Rechts ging es weiter zur Küche. Auch von der alten Frau war nichts mehr zu hören. Die Räume links von ihm trugen alle Beschriftungen: Empfang, Wartezimmer, Behandlungsraum 1 und 2. Er könnte rufen und behaupten, er habe Schmerzen. Ein Notfall. (Natürlich: Angst!) Der Arzt würde ihm trotz der späten Stunde eine Untersuchung nicht verweigern können. Nebenbei könnte er ihn befragen. In der Zwischenzeit würden die draußen ihre Jagd aufgeben. Es ging doch wirklich nur darum, sich für kurze Zeit in Sicherheit zu bringen. Er wollte sich gerade bemerkbar machen, als oben eine Tür geöffnet wurde. (Panik!)
»Was glaubst du eigentlich, wer ich bin?« ließ sich die wütende Stimme der Arztfrau vernehmen.
Ein unverständliches Brummen antwortete ihr.
»Und was glaubst du, wer du bist!« setzte sie mit größerer Lautstärke nach. Jakob war wie gelähmt.
»Und vor allem«, brüllte sie, »was glaubst du, wo du bist!«
Damit schien alles gesagt. Heidelinde Wulf näherte sich der Treppe. Jakob flüchtete zur Tür mit der Aufschrift »Empfang«. Seine Schuhe knarrten und knirschten.
»Mienchen, bist du das da unten?« Sie schien sich über das Geländer zu beugen. Jakobs Herz setzte aus. »Geh sofort wieder ins Bett!« bellte sie. Sie lauschte. Jakob hörte ihren Atem, als stände sie schon neben ihm. »Und wenn du glaubst, ich wüßte nicht genau, daß du zu meinem Mann ins Bett schleichst, dann hast du dich geschnitten.«
Jakob drückte auf die Türklinke und betete, daß sie keinen Laut von sich gab. Wen meinte die Giftspritze? Die alte Frau, die er in der Küche gesehen hatte?
»Du solltest dich schämen in deinem Alter.« Die Malerin lachte. »Na, nun komm schon herauf. Du hast doch wie immer alles belauscht. Ich habe nichts dagegen. Kriech zu ihm ins Bett. Mach ihm, wozu eine normale Frau keine Geduld mehr hat.« Sie kicherte böse.
Jakob schoß der Schweiß aus allen Poren. Wenn die Alte nicht schwerhörig war, tauchte sie möglicherweise jetzt auf. Er drückte sich in das dunkle Empfangszimmer und legte sein Ohr gegen das Holz der Tür. Alles, was er hörte, war sein flatterndes Herz. Er atmete tief. Was er soeben erfahren hatte, war undenkbar. Der Arzt mußte Anfang vierzig sein, die Frau in der Küche war mindestens siebzig. Die beiden sollten ein Verhältnis haben? Ein Irrtum, wie alles an diesem Tag. Lauter Irrtümer. Jetzt stieg jemand
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