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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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doch einsehen. Doch er wußte, sie würde ihm kein Wort glauben. Sie glaubte ihm nie. Jedenfalls tat sie so.
    Rudolf Pedus rutschte unruhig auf dem Kunstledersitz des Stahlrohrstuhls hin und her. (Vermox oder Pantelmin gegen Parasiten verordnen?) »Vor drei Jahren war es genauso. Es begann damit, daß sich auf dem Gutshof einer der Landarbeiter die Forke in den Fuß stach. Erinnerst du dich? Es gehört eine Selbstverletzung dazu. Ich habe es dir schon so oft erklärt.«
    »Aber ein abgeschnittenes Glied ...« Mit Bedauern dachte Bernhard Andree an die Verletzung des Tischlers vom Nachmittag. Er hatte sich zwingen müssen, die Wunde nicht selbst zu vernähen. Er wußte, er hätte es besser gekonnt als die Chirurgen in Weinstein. Aber einem Landarzt hätte man das übelgenommen. Außerdem bestand ja noch die Chance, den Daumen zu finden und wieder anzunähen. Damit war er wirklich überfordert. Aber nähen, nähen konnte er besser als jeder andere. (Holen Sie Doktor Andree! Koste es, was es wolle!)
    »Damals«, fuhr Rudolf Pedus fort, »zogen Dorfbewohner von der Kneipe bis zur Abzweigung nach Ehrenfelde und fingen den Landmaschinenvertreter in seinem Wagen ab. Sie prügelten ihn krankenhausreif. Ich weiß es, du weißt es, alle wissen es, auch wenn nachher im Polizeibericht etwas von unbekannten Tätern stand.«
    »Ja, ja, ich weiß, ich weiß, aber ...« Der Arzt wandte sich ab, doch der Pfarrer gab keine Ruhe: »Er starb sechs Monate später.«
    Bernhard Andree sah aus dem Fenster, den Kopf in die Hände gestützt. »Was willst du von mir?« Er war nun mal kein sehr mutiger Mensch (Ein Arzt! Ist ein Arzt im Saal?), sonst wäre sein ganzes Leben anders verlaufen. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal Heidelinde geheiratet, aber für einen Menschen wie ihn war es so praktisch gewesen, eine starke Frau zu haben, auf deren Entscheidungen man sich verlassen konnte. (Nebenwirkungen?)
    »Und wieder drei Jahre zuvor, erinnerst du dich noch, da ...«
    »Ist ja gut.«
    »Und vor neun Jahren der Brand und vor zwölf Jahren der Tote in der Scheune – vierundvierzig Messerstiche. Und vor fünfzehn Jahren – du warst gerade hergekommen, erinnerst du dich an die Leiche im Moor? Ertrunken? Selbstmord?« Der Pfarrer lachte künstlich. »Du weißt es selbst am besten. Und drei Jahre, bevor du kamst? Glaubst du wirklich, dein Vorgänger hat sich ...«
    »Ist ja gut, ist ja gut.« Bernhard Andree hielt sich die Ohren zu. (Ob die Verordnung von Psychopharmaka therapeutisch zweckmäßig ...) Drei Jahre, nachdem sie nach Herzensach gezogen waren, hatte seine Frau gänzlich die Herrschaft über sein Leben übernommen, indem sie ihn dazu brachte, in den Totenschein jenes Jungen aus dem See eine Todesursache zu schreiben, von der er ganz und gar nicht überzeugt war. Jetzt war es unmöglich, daß er sich befreite und seine Entscheidungen wieder selbst traf. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht rückgängig machen. (Es tut mir leid, aber der Patient ist tot.)
    Rudolf Pedus schwieg, bis der Arzt die Hände herunternahm, sich umdrehte und seinem Freund zum ersten Mal in die Augen schaute. »Aber es muß nicht stimmen.«
    Der Pfarrer fuhr hoch: »Immer ist es zu früh, sichere Aussagen zu machen, und wenn man endlich sichere Aussagen machen kann, ist es zu spät.«
    Der Arzt spürte, daß er lachen mußte. Es wurde ein schrilles Kichern, das er am Ende verschluckte. Es war ihm unangenehm, daß die Angst manchmal solche unkontrollierbaren Reaktionen hervorrief. (Die Einnahme von Haldol wäre über kurze Zeit vertretbar.) Sein Freund sah ihn besorgt an, als hätten sie die Rollen getauscht und der Pfarrer wäre zum Arzt geworden.
    »Du selbst berichtest mir von seltsamen Beobachtungen, sich häufenden weißen Flecken auf den Schultern. Was war es noch vor drei Jahren?«
    »Blaue Zungen«, sagte der Arzt leise. »Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Jetzt kommt es mir jedenfalls so vor.«
    »Damals warst du ganz aufgeregt.«
    »Du mußt auch einem Arzt Irrtümer zugestehen.«
    »Und davor?«
    »Die ... die Bläschen ... aber ...« Er spürte, daß er sich nicht erinnern wollte.
    »Siehst du!«
    »Ich kann dir nicht helfen. Meine Frau ...« (Die Nebenwirkung!)
    ›Ich will nur wissen, ob du bereit bist, das Schlimmste zu verhindern. Ich habe den Studenten schon vorsichtshalber im Brunnen eingesperrt ...«
    »Du hast was?« Der Arzt versammelte hilflose Falten auf seiner Stirn. Ob sein Freund vielleicht verrückt geworden war – und

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