Herzensach - Roman
tiefer Schacht, und er mußte sich krampfhaft am Türgriff festhalten, um nicht hineinzufallen. (In solchen Momenten wurde er sich immer bewußt, daß er träumte.) Dann sah er sich gemeinsam mit seinem Vater über einen Tisch gebeugt. Sie formulierten den Text der Todesanzeige, und Jakob mußte ihn aufschreiben. Am Schluß setzten seine Eltern feierlich ihre Unterschrift darunter. Als er den Text noch einmal durchlesen wollte, kam er immer nur bis zur Überschrift. Sie lautete: »Geschlechtskrankheiten«.
Als er erneut erwachte, warf die eben über die Hügel gekommene Sonne einen Lichtreflex an seine Zimmerdecke. Jakob entdeckte die spiegelnde Fläche in der Seitenscheibe eines Autos. Ein Lieferwagen, der vor der Bäckerei ›Kornblume‹ parkte und beladen wurde. Seine Seitenbeschriftung wies auf die Filialen in Ehrenfelde und Weinstein hin und machte Reklame mit einem großgeschriebenen Slogan, der Jakob an der Werbebranche zweifeln ließ. Er lautete: »Kornblume – Brot ... mit Tränen gebacken!«
Der große Hund saß an der Kirchenwand, die der Friedhofsmauer gegenüberlag, und blickte zu ihm hinauf; schließlich schüttelte er den Kopf, erhob sich, trottete zu dem Bäckerwagen, um gegen einen Reifen zu pinkeln, und zog weiter bis zu dem Haus, das als Arztpraxis ausgewiesen war. Man hatte das zweistöckige Gebäude im Stil den alten Fachwerkhäusern des Dorfes angeglichen. Jakob kniff die Augen zusammen, um die Jahreszahl in dem Balken über der Tür zu erkennen. Der Hund schnüffelte am Holzzaun des üppig mit Frühjahrsblumen bewachsenen Vorgartens, schüttelte noch mal den Kopf, setzte sich und kratzte sich mit dem Hinterbein am Ohr. Plötzlich drehte er sich um und lief im schnellen Trab denselben Weg zurück, bog am Ende der Friedhofsmauer zur Kirche ab und verschwand in dem dahinterliegenden Haus, in dem wohl der Pastor wohnte. Wahrscheinlich war ihm eingefallen, daß er dort sein Frühstück bekam.
Jakob Finn gefiel das Dorf. Nur die Bewohner schienen ihm seltsam. Der Autounfall hatte ihn wie einen Schiffbrüchigen an den Strand einer Insel geworfen, auf der fremdartige Eingeborene lebten. Jakob lachte und trat vom Fenster zurück. Er wurde sich seiner Arroganz bewußt: Daß es Großstädter immer drängte, ihre Lebensform als einzig richtige hinzustellen!
Luise Wischberg, die sechzigjährige Mutter des Gastwirts, eine schlanke Frau mit etwas nervösen Bewegungen und verschmitztem Blick, bereitete ihm das Frühstück. Rührei auf gebratenem Speck, selbstgemachte Brombeermarmelade, frisches Bauernbrot und Kaffee, soviel er wollte. Sie entwickelte Ehrgeiz. Er war der einzige Gast. Nachdem sie ihm alles serviert hatte, holte sie sich von der Theke eine Zeitung und ließ sich zwei Tische entfernt nieder. Eine Weile beobachtete sie ihn, freute sich an seinem Appetit, dann sagte sie: »Verhungert ist hier noch keiner.«
Sie blickte auf die Zeitung.
»Ach Gott, waren Sie etwa auch in diesen Auffahrunfall auf der Autobahn verwickelt?«
»Nein.«
»Sechs Tote steht hier und sechzig Autos. Mein Sohn hatte ja auch mal einen Unfall. Sechs sind eigentlich wenig Opfer, meinen Sie nicht auch? Manchmal frage ich mich, ab wieviel Toten eine Nachricht ins Fernsehen kommt. Ich meine, in die landesweiten Nachrichten. Und ab wieviel Toten wird eine internationale Meldung daraus? Was meinen Sie? Ach, jetzt hätte ich es fast vergessen: Das Abschleppunternehmen hat angerufen. Wenn man sich nicht alles aufschreibt. Als mein Sohn den Unfall hatte ... Er hinkt seitdem, haben Sie das bemerkt?«
»Was ist mit dem Abschleppunternehmen?«
»Ach ja, sie können erst gegen Mittag kommen. In meinem Alter wird man vergeßlich. Wissen Sie, mein Mann war hier schon der Wirt, und mein Sohn hat hinten im Hof gestanden, und Dorothee – Sie kennen Dorothee? Nicht?« Sie stand auf und kam mit der Zeitung an seinen Tisch, setzte sich ihm gegenüber: »Ich gebe zu, Dorothee ist ein bißchen zickig, aber nun mal meine Schwiegertochter, sie macht den kleinen Laden nebenan. Zeitungen, Zigaretten und neuerdings Lebensmittel. Wissen Sie, was ich ihr hoch anrechne? Daß sie nie in Versuchung gekommen ist, eine Postkarte von Herzensach herstellen zu lassen. Ich sage das nur, damit Sie nicht überrascht sind, wenn Sie jemandem schreiben wollen. Haben Sie jemanden, dem Sie schreiben müssen? Aber zurück zu Dorothee. Sagen wir mal, sie hatte aus Versehen den falschen Gang eingelegt. Tja, und seitdem hinkt er, mein Sohn.«
Jakob hörte
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