Herzensach - Roman
gelaufen.«
»Hat er noch so lange seine Briefe geschrieben?«
»Nein, er ist so spät gekommen. Er war bei Jan.«
»Ach ja, diese langweiligen Abende im Gutshaus.«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Mein kleines Reh.« Seine Hände strichen über ihre Schultern, wanderten den schlanken Hals hinauf und umfingen ihren Kopf. Er küßte sie.
»Den ganzen Tag stand mir dein zuckender weißer Leib vor Augen. Komm.«
Er führte sie durch den dunklen Raum. Auch im Flur und in allen anderen Räumen waren die Lichter gelöscht. Nur im Kraftraum beleuchtete eine kleine Lampe ein elektronisches Schaltgerät. Hastig zogen sie sich aus. Sie legte sich auf eine der lederbezogenen Trainingsbänke. Er kniete vor ihr nieder und schloß die Elektroden an ihren Füßen an.
13
Jakob Finn war nicht mit dem Abschleppwagen nach Weinstein gefahren, sondern hatte nur mit der Werkstatt telefoniert. Erst am nächsten Morgen nahm er den Bus in die Kreisstadt, um den vorliegenden Kostenanschlag zu besprechen.
Drei bis vier Tage würde die Reparatur seines Wagens samt den notwendigen Lackierarbeiten dauern. Nachdem in der Werkstatt alles geregelt war, machte er einen Spaziergang durch Weinstein. Die kleine Stadt besaß eine sehr alte, teilweise sorgfältig restaurierte Innenstadt, der man aber mittels Fußgängerzone jede Eigenheit genommen hatte. Etwa tausend Städte wollten an dieser Stelle mit Weinstein verwechselt werden. Nur weil die Häuser im Norden der Stadt einen Berg bis zur alten Burgruine hinaufkletterten, reduzierte sich die Zahl der konkurrierenden Städtchen um rund die Hälfte. Als die Burg noch keine Ruine gewesen war, hatten die Grafen Weinstein darin residiert. Die Reste des Turms waren von fast jedem Punkt des Ortes aus zu sehen. Überall verleiten Burgruinen dazu, ein Freilichttheater einzurichten, um in den Sommermonaten arbeitslose Musiker oder Schauspieler den Touristen zum Fraß vorzuwerfen. In Weinstein sollte eine Reihe klassischer Konzerte stattfinden, wie Plakate stolz in der gesamten Stadt verkündeten.
In einer Buchhandlung entdeckte Jakob eine Karte des Gebietes um Herzensach, in die auch alle durch das von ihm ausgesuchte Waldstück führenden Wege eingezeichnet waren. Er blätterte zwei Reiseführer der Gegend um Weinstein durch. Im ersten kam Herzensach überhaupt nicht vor. Im zweiten war ein Wanderweg von Weinstein zum Heidberg beschrieben. Die Wanderer wurden mit folgenden zwei Zeilen abgeschreckt: Herzensach, Krs. Weinstein, 87 Einw., 16 km südl. v. Weinstein, am gleichn. Fluß, einf. Gasth., 6 Do.-Zi.
Er ließ die Reiseführer liegen und fand in einem unteren Regal eine kleine Broschüre mit dem Titel 1200 Jahre Weinstein. Der Umschlag war schon etwas verblichen, aber im Stichwortverzeichnis wurde auf Herzensach verwiesen. Auf Seite achtundachtzig las er verwundert: »Aus Dankbarkeit für die Errettung seiner Tochter aus Seenot durch den holländischen Kapitän Cornelius van Grunten schenkte der Graf 1762 dem Holländer die kleine Gemeinde Herzensach und die anliegenden Ländereien.«
Er dachte an das Büchlein des Pastors, vor allem an dessen ganz andere Schilderung des Vorganges, und fragte den jungen Buchhändler nach dieser Ausgabe. Der Buchhändler zuckte mit den Achseln. Er kenne es wohl, doch es lohne sich nicht, es zu führen. Herzensach werde von Touristen kaum frequentiert und liege zu weit abseits der üblichen Wege.
Jakob konfrontierte ihn mit den beiden Versionen der Geschichte, aber der junge Mann kannte sie nicht. Er berichtete dem Studenten, er habe erst vor einem Jahr die Buchhandlung übernommen, die total heruntergewirtschaftet gewesen sei, seine Frau müsse noch nebenbei arbeiten, Heimatkunde sei nicht seine starke Seite, der Wasserrohrbruch im Lager verheerend, und hier sei nicht einmal mit den üblichen Bestsellern ein Geschäft zu machen, weil Weinstein sich anscheinend zur lesefreien Zone erklärt habe. Er habe noch nicht einmal den übernommenen Bestand im Reisebuch-Bereich sichten können. Er wisse auch nicht, was sich in dem vor drei Tagen angekommenen Paket der Verlagsauslieferung befinde. Überhaupt komme er zu nichts. Er fiel etwas in sich zusammen, beugte sich über die Broschüre, die Jakob gefunden hatte, und schüttelte den Kopf über deren Alter. Der Buchhändler verwies ihn schließlich mit ausgestrecktem Arm an das nahegelegene Heimatmuseum. Es habe einen sehr guten Ruf – und er keine Zeit mehr.
Jakob Finn war der einzige Besucher des Museums. Er traf auf
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