Herzensach - Roman
einen kleinen, auskunftsfreudigen alten Mann. Karl Metzger, pensionierter Postbeamter. Er führte das Weinsteiner Heimatmuseum bereits im fünfzehnten Jahr. Die ursprünglich private Sammlung seines Vorgängers samt dem fast dreihundert Jahre alten Kaufmannshaus war nach dessen Tod der Stadt geschenkt worden. Karl Metzger hatte im Gemeindearchiv gestöbert und auf diese Weise die Zahl der Ausstellungsstücke verdoppelt. Mit kleinem Etat, unermüdlichem Einsatz und gründlichem Wissen war es ihm gelungen, ein Museum zu installieren, das wie er mit Zeitungsberichten belegen konnte – als beispielhaft galt und so manchem Historiker mit verläßlichen Auskünften dienen konnte.
Der Museumsleiter freute sich über das große Interesse des Studenten, denn die meisten Besucher kamen nur, um das spektakuläre Modell des Weinsteiner Schlosses zu sehen. Zwei Handwerker hatten die Burg in ihrer Freizeit in zehnjähriger Arbeit gebaut und dem Museum geschenkt. (Wieder einmal darf hier dementiert werden, daß sie das Modell aus Streichhölzern gefertigt hatten.) Die Seitenteile des zwei Meter tiefen und ebenso breiten Holzmodells ließen sich elektrisch öffnen und gaben den Blick frei auf das Innenleben der Burg. Auf Knopfdruck konnten die Besucher Licht in jedem der dreiunddreißig Zimmer machen. Jedes Zimmer zeigte weitgehend die Ausstattung vor dem Brand von 1840, denn kurz vorher hatte ein Zeichner im Auftrag des Grafen auf der Burg gearbeitet. Das verheerende Feuer, bei dem der Graf ums Leben kam, war durch Brandstiftung ausgebrochen. Die Täter konnten nicht ermittelt werden, aber man vermutete sie in bestimmten Republikaner-Kreisen.
Auch der Brandnacht galt das Interesse der Museumsbesucher. Sie war in einem riesigen, schauerlich dramatischen Ölgemälde festgehalten, mit dem brennenden Grafen auf der Spitze des Turms. Die Postkarte mit der Abbildung dieses Gemäldes stand in der Beliebtheit auf Platz eins. (Auf Platz zwei findet sich »Weinstein – Marktbrunnen«: eine Blondine in sehr kurzen Hosen auf dem alten Brunnen in der Fußgängerzone. Platz drei: »Weinstein – Burgruine« – dieselbe Blondine in nicht ganz so knappen Hosen auf der Burgmauer.)
Was das Bild der brennenden Burg nicht zeigte: Der gräflichen Familie war durch das Feuer der Weg nach draußen versperrt. Sie flüchtete auf den Turm. Von dort oben ließ der Graf seine Frau und seinen Sohn mit einem Seil herab. Er selbst konnte sich nicht mehr retten und soll, als ihn das Feuer erreichte, mit einem Flammenschweif direkt in den Himmel aufgestiegen sein. Etliche zeitgenössische Brandbeobachter bezeugten das übereinstimmend. Das jährliche Weinsteiner Feuerwerk erinnert an dieses Ereignis. Dann bieten die Gastwirtschaften auch einen Cocktail namens »Brennender Graf« an, und in der Stadthalle findet der »Flammenball« statt. Vergangenes Jahr hatte ein Händler großen Erfolg mit dem Verkauf kleiner flammenförmiger Anstecker, auf denen stand: »Laß mich deine Flamme sein.« Das Thema ist kommerziell keineswegs ausgereizt. Nur das Theaterstück »Der brennende Graf«, von Volksschullehrer Hermann Albers in klassischen Versen gedichtet, war eine Pleite. Es wurde nur ein einziges Mal aufgeführt. In den fünf Akten wird der heimliche Liebhaber der Gräfin zum Brandstifter erklärt und der Graf zu einem Bösewicht, der den Tod verdient hat. Den Weinsteinern gefiel das nicht. Mochte der Graf auch ein harter und selbstherrlicher Mensch gewesen sein, der seiner Frau allen Anlaß gegeben hatte, sich einen Liebhaber zu nehmen, in der Erinnerung wollten ihn seine Weinsteiner als gütigen Landesherrn verehren.
Karl Metzger war während seines Vortrags immer in Bewegung, führte den Studenten in sein kleines Büro, bot ihm Kaffee an und lachte laut, als Jakob Finn ihm von den beiden unterschiedlichen Geschichten um Herzensach berichtete. Dabei schüttelte er sich so, daß sein dichtes graues Haar nach allen Seiten flog, ihm seine Lesebrille von der Nase rutschte und Schuppen auf seine Schultern herabschneiten. Er schob seine Brille wieder zurecht, sah Jakob über den Gläserrand an; seine Augen blitzten vor Vergnügen, etwas aufklären zu können.
»Wissen Sie, eine Zeitlang haben die van Gruntens alles darangesetzt, die Piratengeschichte vergessen zu machen. Etwa zwanzig Jahre lang, von 1910 bis 1930, versuchten sie, eine neue Geschichte über den Ursprung ihres Besitzes zu verbreiten. Damals besaßen sie eine Bank in Berlin, und dazu paßte es nicht,
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