Herzensach - Roman
größer war die Überraschung des Pastors, als er erfuhr, von welchem Bischof die Rede war: »... Es ist heute nicht mehr bekannt, warum Bischof Walter Lenz Herzensach besuchte und welche Probleme er mit seinem Pfarrer Gregor Westerwelle zu besprechen hatte, doch ihr Weg führte sie hinunter zum großen See des Lichter Moores und von dort zu einem kleinen Teich. Hier müssen sie sich, vermutlich in ein Gespräch vertieft, niedergelassen haben. Der Angler am Rande des Teiches hatte sie vermutlich nicht bemerkt. Sein Name ist zwar bekannt, soll hier aber nicht genannt werden, weil alles ein unglücklicher Zufall war. Der Angler holte mit seinem Gerät zum Schwung aus, die dünne Angelleine fuhr durch die Luft, und der kleine Widerhaken verfing sich im Auge des Bischofs ...
Rudolf Pedus hatte den Artikel ausgeschnitten und lange mit sich gekämpft, ob er der Sache weiter nachgehen sollte. Schließlich stand er aber im Archiv des ›Weinsteiner Boten‹ über die großen Sammelordner gebeugt und wurde fündig: Otto Timber, der Vater des heutigen Tischlers, war der Übeltäter gewesen. Er beteuerte seine Ahnungslosigkeit und seine Unschuld in dem Artikel, der kurz nach Verlust des Auges veröffentlicht worden war.
Zweifellos hatte ihm der Bischof nichts von diesem Vorfall erzählt, damit Pedus unvoreingenommen sein Amt antrat. Recht hatte der einäugige Lenz getan, denn hätte der Pfarrer von diesem Unglück gewußt, wer weiß, ob die Entscheidung wirklich für Herzensach ausgefallen wäre, denn schon der tödliche Unfall seines Vorgängers Gregor Westerwelle war kein Willkommensgruß: Die ganze Gemeinde hatte zugesehen, wie der alte Pfarrer nach einer Predigt die Kanzeltreppe hinunterstürzte und sich das Genick brach.
Rudolf Pedus fand es seltsam, daß ihm keiner der Dorfbewohner vom Auge des Bischofs erzählt hatte, doch seine Frau überzeugte ihn davon, daß wohl alle Gemeindemitglieder angenommen hätten, er wisse von diesem Ereignis, so wie er auch vom Unfall (Unfall?) seines Vorgängers wußte.
Seine Frau lag mit kraftlos herabhängenden Armen im Bett. Er richtete sie auf und gab ihr das Glas mit dem Wasser zu halten.
»Wieviel Tropfen?« fragte er beim Öffnen der Medizinflasche.
»Achtzehn«, flüsterte sie, dann: »Zwanzig.« Schließlich noch leiser: »Vierundzwanzig.«
Er wußte, das war die maximale Menge und so viel, daß sie unter den zahlreichen Nebenwirkungen leiden mußte. Er zählte die Tropfen ins Mineralwasser hinein, und sie trank zügig. Danach war sie atemlos und hielt seine Hand fest.
Nach einer Weile sagte sie: »Du mußt etwas tun. Sie werden ihn umbringen.«
Er hob die Brauen.
»Den Fremden, den Studenten.«
»Ich bitte dich, Inge.«
»Du weißt es! Seit zwanzig Jahren weigerst du dich, die Wahrheit zu sehen.«
Er löste ihre Hand von seiner, strich ihr über die Stirn. Sie hatte kein Fieber.
»Es ist gut«, sagte er. Fieber oder nicht!
Sie versuchte sich aufzurichten. »Du weigerst dich, deine täglichen Ahnungen zur Gewißheit werden zu lassen. Dabei haben sie es bei dir doch auch versucht ...«
Sie verstummte stöhnend. Natürlich war er außergewöhnlich vielen Unfällen ausgesetzt gewesen. Doch keiner davon war ein Mordversuch gewesen (oder doch?), wie ihm seine Frau ständig zu beweisen suchte. Er konnte es nicht zugeben, aber seine Sicherheit führte er auch noch auf seine Herkunft zurück. Doch darüber zu diskutieren war ihm unangenehm. Ein Aberglaube.
»Rudolf, ich bitte dich«, sie nahm noch einmal alle Kraft zusammen. »Sag Wilhelm Weber, Bernhard Andree, Förster Franke Bescheid und auch Petra, auch sie ist nicht von hier. Ihr wißt doch, was hier los ist. Ihr seid die Zugereisten. Ihr könnt etwas tun! Ihr müßt es verhindern.«
Sie sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Der Hund erhob sich, schaffte es, ihre Hand mit seiner Schnauze anzustupsen. Sie sah ihn an.
»Ja, ich weiß.« Sie strich ihm über den Kopf. Dann blickte sie wieder zu ihrem Mann. »Er weiß es auch, und ich habe Trivial gesagt, er soll auf den Fremden aufpassen. Aber Trivial ist alt, und so ein Hund ist schnell mal abgelenkt.«
Der Hund schnaufte und runzelte die Stirn.
»Alles wird gut«, sagte der Pfarrer lächelnd. »Du mußt dir keine Sorgen machen.« (Doch Fieber!)
»Ich mach mir Sorgen, auch um dich. Wenn du doch nur sehen könntest, was ich sehe.«
»Ich werde aufpassen.«
»Versprichst du mir das?«
Er nickte. Sie schloß die Augen. Der Pastor streichelte ihre
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