Herzensbrecher: Roman (German Edition)
geschluckt, und wenn seine Mutter ihn nicht so bald gefunden hätte, wäre es zu spät gewesen. Sie hatte sofort den Notarzt verständigt. Maxine hörte aufmerksam zu. Das Krankenhaus lag nur acht Blocks von ihrer Wohnung entfernt. Obwohl es am Nachmittag unablässig geschneit hatte und die Schneeschicht mit Einbruch der Dunkelheit gefährlich glatt geworden war, entschied Maxine sich dafür, zu Fuß zu gehen.
»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte sie ruhig, aber mit fester Stimme. »Danke, dass Sie mich angerufen haben.«
Maxine hatte Jasons Mutter für den Notfall schon vor Monaten ihre Privat- und ihre Handynummer gegeben. Sie hatte gehofft, dass dieser Notfall nicht eintreten würde, aber jetzt hatte Jason zum zweiten Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Maxine konnte sich vorstellen, in welcher Verfassung sich die Mutter des Jungen befand. Nachdem sie die Tochter und den Ehemann verloren hatte, war Jason alles, was ihr noch geblieben war.
Maxine klopfte an Zeldas Tür, öffnete sie leise und stellte fest, dass Zelda bereits schlief. Sie hatte die Kinderfrau bitten wollen, während ihrer Abwesenheit ein Auge auf die Mädchen zu haben, doch sie brachte es nicht über sich, sie zu wecken. Heute war schließlich Zeldas freier Tag.
Während sich Maxine einen warmen Pullover überzog, klopfte sie an die Tür zu Daphnes Zimmer.
»Ich muss zu einem Patienten«, erklärte sie den Mädchen. Daphne und ihre Freundinnen wussten, dass Maxine manchmal zu Notfällen gerufen wurde, sogar am Wochenende. Daphne blickte kurz auf und nickte. »Zelda ist da, falls ihr etwas braucht. Aber macht bitte nicht zu viel Lärm in der Küche. Sie schläft schon.« Wieder nickte Daphne, diesmal ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. Zwei ihrer Freundinnen waren auf dem Bett eingeschlafen, und eine dritte lackierte sich die Nägel. Die anderen verfolgten gebannt den Film. »Ich bin bald wieder zurück.« Daphne wusste, dass es meistens um einen Selbstmordversuch ging, wenn ihre Mutter nachts fortmusste. Maxine erzählte zwar nicht viel über ihre Arbeit, aber es war allen klar, dass sie nur in absoluten Notfällen nachts zu Patienten gerufen wurde.
Maxine zog Stiefel mit rutschfesten Sohlen und einen Skianorak an, schnappte sich ihre Handtasche und eilte durch die Tür. Nur Augenblicke später war sie auf der Straße und marschierte trotz des eisigen Windes zügig die Park Avenue hinunter in Richtung Lenox Hill Hospital. Als sie dort eintraf, brannte ihr Gesicht von der Kälte, und ihre Augen tränten. Sie ging sofort in die Notaufnahme, wo sie sich beim Empfang nach Jasons Zustand erkundigte. Man sagte ihr, in welcher Kabine er sich befand. Zum Glück lag er nicht auf der Intensivstation. Er war zwar schwach, aber außer Lebensgefahr. Man hatte nur noch auf Maxine gewartet, damit sie nach ihrem Patienten sehen konnte. Anschließend sollte er für die Nacht auf eine Station verlegt werden. Als Maxine die Kabine betrat, stürmte Helen Wexler auf sie zu und fiel ihr weinend um den Hals.
»Er wäre fast gestorben …«, schluchzte sie.
Jason döste in einem Bett und hatte sich nicht gerührt. Die Schlaftabletten wirkten offenbar noch, und er würde eine Weile schlafen. Maxine führte Helen behutsam hinaus. Jasons Mutter wiederholte unablässig, dass er fast gestorben wäre. Maxine ging mit ihr ein Stück weit den Flur hinunter, für den Fall, dass Jason doch aufwachte.
»Aber er lebt, Helen. Und er wird wieder gesund«, sagte Maxine mit ruhiger Stimme. »Zum Glück haben Sie ihn rechtzeitig gefunden. Er wird sich erholen.« Bis zum nächsten Mal. Es war zwar Maxines Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es in diesem Fall kein drittes Mal gab. Allerdings stieg, statistisch gesehen, mit jedem Mal die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Versuches erheblich an. Mit jedem Mal nahm auch die Wahrscheinlichkeit zu, dass der Versuch gelang. Maxine war sehr besorgt, weil Jason nun zum zweiten Mal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.
Sie brachte seine Mutter dazu, sich zu setzen und ein paar Mal tief durchzuatmen. Langsam beruhigte sich die Frau. Maxine erklärte, dass sie es für nötig halte, Jason nach diesem zweiten Versuch in eine Klinik einzuweisen. Erst einmal für einen Monat, danach würde sie entscheiden, wie es weiterginge. Sie empfahl eine Einrichtung auf Long Island, mit der sie häufiger zusammenarbeitete. Sie versicherte Helen Wexler, dass man dort sehr erfahren sei im Umgang mit Jugendlichen.
Diese schaute Maxine entsetzt an.
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