Herzflimmern
nicht erinnern. Er hatte sie seit ihrer Pubertät in ständiger Wiederkehr gequält; später, als sie auf dem Castillo College gewesen war, waren die {224} Bilder seltener gekommen und irgendwann ganz ausgeblieben. Doch jetzt, wo sie geglaubt hatte, für immer Ruhe zu haben, war der Traum plötzlich wieder da, so schlimm und quälend wie früher.
Ehe das Fruchtwasser entnommen wurde, mußte eine Ultraschalluntersuchung gemacht werden, um die Lage von Mutterkuchen und Fötus festzustellen. Auf dem Ultraschallbildschirm erschien ein verwischtes, fleckiges Bild, das überhaupt keinen Sinn ergab, wenn man nicht wußte, worauf man zu achten hatte.
Doch Ruth hatte ein geschultes Auge; sie sah die Rundungen und Flächen, die den Körper des fünfzehn Wochen alten Fötus in ihrem Leib bildeten. Sie mußte sich abwenden. Dieser kleine, noch ungeformte Mensch war völlig abhängig von ihr und diesen Leuten hier. Nur wenn sie feststellten, daß er frei war von der Krankheit, die seine Mutter und sein Vater ihm möglicherweise unwissentlich mitgegeben hatten, durfte er leben. Ich hatte kein Recht, dich ins Leben zu rufen, wenn ich es dir wieder nehmen muß.
»Wie geht’s, Ruth?«
Sie lächelt schwach. »Ganz gut …«
Dr. Joe Selbie persönlich, Geburtshelfer und Gynäkologe mit Spezialausbildung in der Amniozentese, führte die Untersuchung durch. Er tätschelte Ruths Schulter.
»Es geht ganz schnell, Ruth. Der Fötus ist in günstiger Lage.«
Sie starrte zur Decke hinauf, in die eisigen weißen Lichter, die in weiße Dämmplatten eingelassen waren. Nichts als Weiß und blitzendes Metall in diesem Raum. Sie hätte ebensogut auf dem Operationstisch oder im Leichenhaus liegen können. Es war alles so unpersönlich.
Als sie hörte, wie der Instrumentenwagen herangerollt wurde, schloß sie wieder die Augen. Sie kannte das Verfahren; sie hatte selber schon die lange Sonde geführt. Aber es war ein gewaltiger Unterschied, an welchem Ende der Sonde man sich befand. Und so sehr sie sich bemühte, es gelang Ruth nicht, sich zu distanzieren, ihre Emotionen hinter sich zu lassen und sich auf die sachliche Ebene des Arztes zu begeben.
Sie hörte Selbie murmeln: »Wir gehen da rein«, fühlte dann die Kälte des Desinfektionsmittels auf ihrer Haut.
»Das ist jetzt das Xylokain, Ruth«, sagte Selbie. Sie spürte den Einstich und danach die rasch folgende Taubheit.
Sie wollte so gern die Augen öffnen und auf den Bildschirm sehen, wollte das Bild ihres Kindes beobachten, um sicher zu sein, daß nichts passierte, aber sie brachte es nicht fertig. Die Augen fest zugedrückt, dachte sie: Wird das kleine Wesen das Eindringen von kaltem Metall in {225} seine warme, feuchte Welt wahrnehmen? Wird es Angst empfinden? Können ungeborene Kinder weinen? Wird es mich dafür hassen. Es kann in einem solchen Moment nicht namenlos bleiben. Es muß einen Namen haben. Ich werde es Leah nennen. Weine nicht, Leah, Mutter ist bei dir.
»Okay, Ruth, jetzt sind wir soweit. Entspannen Sie sich. Sie werden nichts spüren.«
Ruth fühlte gedämpft den Einstich, dann nichts mehr. Aber vor ihrem inneren Auge sah sie, wie die Sonde durch Haut, Gewebe und Muskeln immer tiefer stieß; sie durchbohrte das Bauchfell, die Gebärmutterwand, und dann –
Armes kleines Kind! Armes wehrloses kleines Wesen. Ich kann dich vor dieser Verletzung nicht schützen. Oh, Arnie, ich habe Angst. Ich bin so allein. Ich wollte, ich hätte nachgegeben, dann wärst du jetzt hier bei mir, wir wären zusammen, und du könntest mir die Kraft geben, die mir fehlt.
Daddy …
Ruth begann zu weinen.
26
Ruth war verwirrt. Nach allen Gesetzen der Natur und der Wissenschaft hätte diese Patientin jetzt schwanger sein müssen. Aber sie war nicht nur verwirrt, sie war auch enttäuscht. Ihr schien als wäre die Lösung des Rätsels in greifbarer Nähe – wenn sie nur den Arm hätte ausstrecken können, um sie zu fassen. Aber es hatte keinen Sinn; Ruth war am Ende ihrer Kunst und ihres Wissens angelangt.
Sie saßen auf dem weißen Korbsofa in ihrem Sprechzimmer; die Novembersonne fiel auf die blaßgrünen und gelben Kissen. In der Ecke stand wie zum Trotz gegen die Kälte draußen ein Gummibaum, tropische Fische huschten rot und golden glitzernd im Aquarium hin und her. Freude an allem Lebendigen prägte Ruths Praxis. Draußen im Wartezimmer hing ein Poster mit der Aufschrift ›Krieg ist ungesund für Kinder und andere Lebewesen‹.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll,
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