Herzflimmern
Abend mußte Ruth schnell wieder ins Krankenhaus, weil eine ihrer Patientinnen in den Wehen lag. Darum hatte sie die Sache beim Essen besprechen müssen.
»Ach, irgendein Faktor, Arnie. Du bist doch sonst nicht so scharf auf medizinische Details.«
»Herrgott noch mal, Ruth –«
»Mary wird es dir schon erklären, okay?« Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm deutlich sagte, ich bin beunruhigt, bitte mach’ es nicht noch schlimmer.
Arnie war also zu Dr. Farnsworth gegangen.
»Ich habe Ihre Frau eigentlich nur auf Verdacht untersucht, Mr. Roth. Wegen ihrer Abstammung. Das Gen, das sie hat, kommt in zweihundert Fällen vielleicht einmal vor. Wenn nur sie das Gen hat, kann sie die Krankheit nicht auf ihr Kind übertragen. Wenn Sie es aber auch haben, besteht für Sie und Ruth die fünfundzwanzigprozentige Gefahr, daß sie ein
Tay-Sachs
Kind bekommen.«
Ein Kind, das keine Chance hat, seinen vierten Geburtstag zu überleben.
»Und wenn ich nun dieses Gen habe?«
»Dann untersuchen wir den Fötus, um festzustellen, ob er die Krankheit hat. Wenn ja, sollte die Schwangerschaft abgebrochen werden.«
In der letzten Woche hatte Arnie das Ergebnis bekommen. Es war positiv. Es wäre ein Wunder, hatte Mary Farnsworth ganz offen gesagt, daß er und Ruth zusammen vier gesunde Kinder hätten.
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Der nächste Schritt nun war ein Verfahren, das sich Amniozentese nannte. Es handelte sich dabei um eine Untersuchung des Fruchtwassers, mit deren Hilfe festgestellt werden sollte, ob ein Enzym namens Hexosaminidase enthalten war. Fehlte dieses Enzym, so war klar, daß das Kind die Krankheit hatte.
Dieser Untersuchung wollte sich Ruth an diesem Tag unterziehen. Das Ergebnis würden sie in zwei Wochen erfahren.
»Ich kann mir den Tag freinehmen«, sagte Arnie. Einerseits wollte er sie gern ins Krankenhaus begleiten, andererseits graute ihm davor. »Es ist doch besser für dich, wenn du nicht ganz allein bist.«
»Unsinn.« Ruth schob ihren Stuhl zurück, nachdem sie sich vorher vergewissert hatte, daß Sarah nicht im Weg war, und stand auf. »Es dauert ja nicht lang, und ich fahre hinterher gleich in die Praxis.«
Seinem Vorsatz zum Trotz, sich um medizinische Dinge nicht zu kümmern, hatte Arnie Ruth gefragt, wie so eine Amniozentese vor sich ging und hatte es augenblicklich bedauert. Erst würden sie, hatte Ruth ihm erklärt, die Lage des Fötus feststellen, und dann eine lange Nadel in ihren Bauch einführen. Ob die Untersuchung mit Risiken verbunden wäre, hatte er gefragt. Ja, es gäbe gewisse Risiken, aber es wäre besser, gleich jetzt zu erfahren, ob das Kind normal war oder nicht.
»Arnie, du mußt gehen. Sonst verpaßt du die Fähre.«
Während er die Treppe hinaufstapfte, um seine Aktentasche zu holen – und eine Sicherheitsnadel für den Hemdsärmel –, begann tief drinnen wieder dieses seltsame, schmerzliche Gefühl ihn zu quälen. Was war es nur? Immer wenn es kam, versuchte er, es zu beschreiben, aber es gelang ihm nie ganz. Manchmal fühlte es sich wie Enttäuschung an, manchmal wie Ungeduld; an diesem Morgen schmeckte es eine Spur nach Groll. Gegen was? Gegen wen?
Im Schlafzimmer zog Arnie geistesabwesend die Bettdecken gerade, wie er das immer tat, weil das Bett sonst überhaupt nicht gemacht wurde.
Ruth stand unten in der Küche und hörte Arnies Wagen abfahren. Sie ging zum Kühlschrank und nahm einen Krug Orangensaft heraus. Kaffee wäre ihr lieber gewesen, aber sie hatte sich Coffein genau wie Nikotin, Alkohol und Tabletten während der Schwangerschaft verboten. Kaffee war ein Luxus, den sie sich erst nach der Entbindung wieder erlauben würde.
Während sie trank, warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit, ehe Mrs. Colodny kam. Sie setzte sich wieder an den Tisch und lauschte dem Rauschen des Regens, während sie müßig den Stapel Rechnungen hin und her schob, der vor ihr lag.
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Sie hoffte, die neue Praxis würde bald etwas abwerfen, damit sie anfangen konnten, einige dieser Rechnungen zu bezahlen. Sie hatte bescheidene Räume in der Winslow Avenue gemietet, hatte eine Arzthelferin und eine Sprechstundenhilfe und schon jetzt so viele Patienten, daß sie die ganze Woche zu tun hatte. Jetzt kam es nur noch darauf an, sie dazu zu bringen, daß sie auch bezahlten.
Von der Treppe her kam das vertraute Poltern, und im nächsten Moment stürmten drei kleine Mädchen in die Küche und stürzten sich in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.
Rachel, die ihr Kleid
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