Herzflimmern
jüngeren Schwester beim Geschirrspülen geholfen, als das Wunder geschehen war. Das Kind hatte sich bewegt. Ruth kannte die Empfindung. Ein Flattern im Bauch, dann eine Pause, dann wieder ein Flattern. Sie kannte das Gefühl von ihren früheren Schwangerschaften, aber diesmal war es etwas ganz anderes.
Ruth hatte das Glas fallenlassen, das sie gerade trocknete, und war in Tränen ausgebrochen. Sofort hatten sich sämtliche Frauen der Familie um sie geschart, ihre Mutter, die Frauen von Joshua und Max, Davids Freundin, und hatten sie zu einem Sessel geführt. Auf ihre Fragen, was denn los sei, hatte Ruth nicht antworten können. Sie wußte ja selber nicht, was los war.
Dann hatte sie aufgeblickt und ihn an der Tür stehen sehen. Ihren Vater. {228} Flüchtig hatten sich ihre Blicke getroffen, und in diesem flüchtigen Moment hatte Ruth eine Botschaft empfangen. Sie hatte sofort zu weinen aufgehört, war aufgestanden, hatte allen versichert, daß es ihr gut ginge und war ans Spülbecken zurückgekehrt. Niemals würde sie den Blick ihres Vaters vergessen. Was ist denn, Ruthie? hatte er gesagt. Schaffst du’s nicht?
Von diesem Moment an fühlte Ruth fremde neue Regungen in sich wachsen, die sie erschreckten: Selbstverachtung, Haß auf ihren Körper, der sie verraten hatte. Ihr Wille war stark, aber ihr Körper war schwach. Es war nicht ihre Schuld, daß sie bei jenem Rennen vor vielen Jahren nicht als erste eingelaufen war – sie hatte es
gewollt
. Zählte das denn gar nicht? Nein, jedenfalls nicht in Mike Shapiros Augen. Da zählte nur die Leistung. Der gute Wille allein zählte nicht.
Dieser Erkenntnis, diesem Zorn auf ihren Körper, folgte eine genauere Wahrnehmung der gleichen Selbstverachtung bei anderen Frauen. Sie sah sie bei vielen ihrer Patientinnen – die Depression nach einer Fehlgeburt, nach der Entdeckung eines Brustkrebses, nach dem Verlust eines Babys durch plötzlichen Kindstod, und aus all dem entstand ein tiefer Kummer, der sich nach innen wendete und ein Gemisch aus Schuld und Selbstvorwurf, Verwirrung und Furcht mit sich brachte.
Ruth hatte keine Zeit vergeudet. Sie hatte sofort eine Gruppe ins Leben gerufen. Sie hatte Patientinnen eingeladen, sich mit ihr und anderen regelmäßig in der Praxis zu treffen, um über die körperlichen Probleme und die seelischen Nöte zu sprechen, die sie alle quälten. Geradeso wie Joan Freeman jetzt begann, sich zu hassen und ihren Körper zu verachten, geradeso fand es Heidi Smith schrecklich, mit nur einer Brust zu leben; Sharon Lasnick, mit drei Fehlgeburten fertigzuwerden; Betsy Chowder, ihre Hysterektomie zu akzeptieren.
Sie kamen einmal in der Woche zusammen und redeten sich alles von der Seele. »Mein Mann findet mich nicht mehr begehrenswert.« – »Ich bin nutzlos; ich kann kein Kind gebären.« – »Mein Mann wird keine Lust mehr haben, mit mir zu schlafen.«
Ruth übernahm die Rolle der Beraterin. Sie war nicht nur die, die die Gebärmutter entfernte, sie war auch die, die sagte, daß es etwas Natürliches sei, sich betrogen zu fühlen. In der letzten Woche waren sie zu fünft in der Gruppe gewesen; an diesem Abend würden sie zwölf sein.
»Joan«, sagte sie, als sie die junge Frau zur Tür brachte. »Haben Sie nicht Lust, heute abend um sieben noch einmal hierher zu kommen? Wir haben eine Gesprächsgruppe, in der wir …«
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Als Ruth sich wieder an ihren Schreibtisch setzte, kam die Stimme der Sprechstundenhilfe über die Sprechanlage.
»Dr. Shapiro? Ihr Mann ist hier.«
Arnie? Hier? »Bitten Sie ihn, einen Moment zu warten. Ich komme sofort. Wer ist noch da, Andrea?«
»Nur Mrs. Glass.«
»Gut, schicken Sie sie bitte in das Untersuchungszimmer. Und sagen Sie Carol, sie soll eine Urinprobe nehmen.«
Ruth sah auf ihre Uhr. In einer Stunde sollte sie bei Dr. Farnsworth sein. Sie hatte nicht gewußt, daß Arnie sie begleiten würde.
Arnie sah auf seine Uhr. Sie war wieder spät dran. Nun ja, Ruth hatte ihn schon vor ihrer Heirat gewarnt: Geburtshelfer können nicht nach der Uhr gehen.
Trotzdem, dachte er, als er sich im Wartezimmer niederließ. Er hatte geglaubt, das alles läge nun hinter ihnen – die langen Arbeitszeiten, die nächtlichen Störungen. Er hatte es während Ruths Zeit am Krankenhaus ertragen, weil er immer das Licht am Ende des Tunnels vor Augen gehabt hatte: ihre eigene Praxis, geregelte Arbeitszeiten, ein normales Familienleben. Aber so war es nicht gekommen. Im Gegenteil, anstatt langsamer zu treten,
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